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    Deus Avatar von John Irenicus
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    Post [Story]Schattenboxer 001

    Schattenboxer 001

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    Deus Avatar von John Irenicus
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    Es war vollbracht. Zufrieden lächelnd und mit atemvoll bebender Brust betrachtete er das Werk, das er geschaffen hatte. Mit seiner eigenen Hände Arbeit hatte er eine Mischung aus Blut, Schweiß und Tränen zu dem Kunstwerk geformt, das den Abschluss seines Schaffens bilden sollte. Sein leises, erschöpftes Keuchen, während er sich kraftlos auf seinen riesigen Malpinsel stützte, ging im allgemeinen, stummen Geraune des vor Erhabenheit und Ehrfurcht erstarrten Publikums unter. Es war einer der Momente, in dem ihm wieder klar vor Augen und vor Ohren lag, dass ein Künstler nicht nur der Schmeichelei, des Ruhmes und des Broterwerbs wegen auf sein Publikum angewiesen war. Nein, sogar die Kunst, das Kunstwerk selbst war oft auf das Publikum angewiesen, und oft genug war das Publikum nicht nur Publikum, sondern der eigentliche Hauptdarsteller, und der Künstler war bloß ein Dirigent und Regisseur, der die unterschiedlichen Einzelteile zusammenführte, ordnete und arrangierte; nicht, um etwas ganz Neues zu erschaffen, sondern schlicht, um die wahre Gestalt eines bereits existenten Werks hervorzubringen, indem er es von den Schleiern des allzu Offensichtlichen befreite. Das, was er nun vor sich sah, war die Kulmination dieser Arbeitstechnik. Alles war so geworden, wie er es sich in seiner Vision des perfekten Werks erdacht hatte. Alles stimmte. Das Zusammenspiel zwischen Licht und Schatten, die vielen Farben, die Braun-, Rot- und Schwarztöne, die in einer nie dagewesenen Melange ineinander verschmolzen. Die Lage der Körper im Raum und zueinander, die freischwebende Energie in der Dachkammer. Es hatte sich letztlich doch noch gelohnt, das beinahe leerstehende Lagerhaus zu einem Preis anzumieten, der eine Goldsumme im Gegenwert von ziemlich genau einer Woche Hunger verzehrt hatte, und da war der Preis für das zahlreiche Publikum noch nicht einmal mit eingerechnet – denn wenn das Publikum in Wahrheit die Hauptdarsteller waren, dann musste man dafür natürlich auch zahlen.
    Die Energien im Raum, die kollektiven Seufzer von Dirigent und Darstellern, sie begannen zu wabern, als sich Schritte von unter der Bühne hinauf in die Kammer des Geschehens bahnten. Neues Publikum brachte die Kunst wieder in Fluss, und der Künstler verstand, dass es nun an ihm war, mit einem letzten Streich des Pinsels mit seinen Darstellern zu verschmelzen und somit selbst Teil dieses großartigen Kunstwerks zu werden. Jubelrufe brandeten auf, als er den rostbraunen Pinsel zum letzten Mal erhob und seinen eigenen Leib damit bemalte, erst innehaltend; als er ihn tiefrot gefärbt hatte. Unter dem Applaus der Massen fiel erst sein Pinsel, und schließlich er selbst zu Boden. Es war vollbracht. Endlich vollbracht.



    I.


    „Scheiße!“, brüllte Peck, als ihm der Mann mit der verschmierten Schürze in die Arme fiel und ein nicht enden wollender Schwall tiefroten Blutes den Stoff seiner Milizuniform tränkte. Ein anderer Milizionär, Boltan, eilte herbei, um den Mann zu stützen. Gemeinsam legten sie den Sterbenden, stumm und reglos wie er war, auf den rostroten Dielen ab. Rostrot, weil an ihnen schon so viel anderes, teils altes, fast schwarzes Blut klebte. Das hier war das reinste Schlachthaus. Ein unheilvoller, eisenhaltiger Geruch stockte im Raum und weigerte sich hartnäckig, zu entweichen. Das einzige Fenster des Dachgeschosses war mit schweren Brettern und dicken Nägeln fest verbarrikadiert worden.
    „Verdammte Scheiße“, keuchte Peck, der weniger von der Situation, als vielmehr noch von den vielen Treppenstufen bis hinauf zum Dachgeschoss des Lagerhauses mitgenommen schien. „Wir müssen das Schwert herausziehen!“
    „Nein, lass!“, erwiderte Boltan. „Beim Rausziehen machst du nur noch mehr kaputt! Wir müssen das Schwert drin lassen, bis sich Agon um die Wunde kümmert. Sonst …“
    „Ich glaube, dafür ist es jetzt eh schon zu spät“, schaltete sich der dritte Milizionär, Ruga, nun ein. Er schob dem Mann einige verklebte schwarze Haarsträhnen zur Seite und legte ihm prüfend zwei Finger an den Hals. „Der läuft gerade nur noch aus. Der muss schon vorher so gut wie tot gewesen sein. Er ist es jedenfalls jetzt. Da kommt jeder Heiler zu spät.“
    Er suchte den Blick der beiden anderen Milizionäre, wie um sicherzustellen, dass sie ihn gehört und verstanden hatten. Sie nickten ihm zu.
    „So eine verfluchte Scheiße“, stieß Peck aus. Boltans Miene verfinsterte sich. Eine gewisse Hilflosigkeit breitete sich im Raum aus, widergespiegelt in den starren Augen des Toten mit der Klinge im Leib. Der Mann trug nichts anderes als seine Schürze. Sein jung wirkendes Gesicht war klebrig vor Blut, Schweiß und Dreck. Seine Beine waren mit Hämatomen übersät. Seine Füße waren im Grunde nicht mehr vorhanden und nur noch blutige, eitrige Stümpfe. Er lag dort, als ob er rituell hingerichtet worden war, und wahrscheinlich war das sogar wirklich die beste Beschreibung für das, was hier passiert war.
    Erst jetzt hatten die Milizionäre Zeit, das ganze Ausmaß des Schreckens in der stickigen Dachkammer zu erfassen. Mehrere Leiber von Männern und Frauen, es mussten fünf sein, lagen teils ineinander verschlungen, teils für sich allein verteilt auf dem Holzboden der Kammer. Sie waren alle verstümmelt oder jedenfalls verletzt, einem Mann fehlte ein Arm, einer Frau waren wie beim Mann mit dem Schwert im Bauch beide Füße amputiert worden. Sie alle trugen Ledermasken in unterschiedlichen Brauntönen, in zwei Fällen waren sie fest mit der Haut am Kopf und dem Gesicht vernäht. Die drei Milizionäre schwärmten sofort aus, um die Körper der drei Männer und der zwei Frauen zu untersuchen. Sie sagten dabei nichts, aber ihre Blicke sprachen Bände. Alle tot, ein paar wahrscheinlich seit ein paar Stunden, eine Frau erst ganz frisch, alle aber vermutlich erst seit dem heutigen Tag. Die Miliz war zu spät gekommen, ganz knapp zu spät, lautete das unausgesprochene Fazit, das sich auf den Mienen der drei Männer in den roten Waffenröcken abzeichnete. Sie hatten keinen einzigen Menschen an diesem Tag retten können.
    Javert hatte die Szenerie und das Handeln der Milizionäre vom Eingang der Dachkammer aus schweigend beobachtet. Sein Körper war wie in einer Schockstarre gefangen, lediglich seine Augen flitzen umher, über die vielen menschlichen Körper, ihre Wunden, das Blut. Er merkte schnell, dass das alles ein bisschen zu viel Gewalt für ihn war, für einen einzigen und dann auch noch seinen ersten richtigen Tag, aber das durfte er sich vor den Milizionären, die ihm formal unterstellt waren, nicht anmerken lassen. Er atmete einmal tief und leise ein und aus, übernahm strengste Kontrolle über seine Blickrichtung und trat in den Raum hinein.
    „Wir müssen den Tatort so gut sichern wie möglich“, begann er mit dem Offensichtlichen. „Und damit meine ich einerseits, dass wir die Beweise sichern müssen – auch wenn sich unser Mörder gerade selbst gerichtet hat und deswegen kein Verfahren mehr gegen ihn stattfinden wird, aber wer weiß, was wir noch herausfinden können. Wir müssen jedenfalls sicherstellen, dass während der Durchsuchung niemand das Lagerhaus betritt. Boltan, würden Sie … ?“
    Der Angesprochene sah vom Körper einer mittelalten Frau in zerfetzter Bürgerinnenkleidung auf und nickte. Dann trat er zügig an Javert vorbei und verließ die Dachkammer. Javert konnte sehr gut nachfühlen, dass seine Eile dabei nicht etwa einem überbordenden Gehorsam gegenüber seinem neuen Vorgesetzten entsprang.
    „Peck, Ruga, Sie wissen vermutlich am besten, wie man bei so einem Gewaltverbrechen vorgeht“, sagte Javert.
    „Gar nichts weiß ich“, raunte Peck tonlos. „Sowas habe ich ja auch noch nicht gesehen.“
    „Ist bei mir auch schon länger her“, sagte Javert. „Was ich meine: Wir müssen sicherstellen, dass die … Körper möglichst so bleiben, wie sie sind. Und wir müssen schauen, ob sie jemand identifizieren kann.“
    „Und wie soll das vonstatten gehen?“, fragte Ruga, der von den drei Milizionären noch am gefasstesten wirkte. „Alle am Galgenplatz aufbahren und jeder darf mal gucken?“
    „Den Typen hier drüben habe ich glaube ich schonmal bei Moe gesehen“, sagte Peck und wies auf einen etwas beleibteren Mann mit Halbglatze, dem die Augen ausgestochen waren und dem das Blut wie zwei Rinnsale roter Tränen die Wangen herunter bis zum Kinn gelaufen war. „Bin mir aber nicht sicher …“
    „Wir müssen jedenfalls irgendwie herausfinden, wer diese Leute sind und woher sie kommen“, sagte Javert. „Darauf wollte ich hinaus. Wenn wir sie selber identifizieren können, umso besser. Für alle anderen würde ich vorschlagen, Zeichnungen ihrer Gesichter – soweit noch vorhanden – anfertigen zu lassen und in der Stadt zu verteilen. Gibt es einen Zeichner innerhalb der Miliz?“
    „Wir haben einen guten Kartenzeichner in der Stadt, nicht weit von hier“, sagte Peck. „Der könnte das machen.“
    Javert schüttelte den Kopf. „Wir sollten so wenig milizfremde Personen an den Tatort oder an die Leichen lassen wie möglich. Wenn es also irgendwie ohne geht …“
    „Lord André hat in seiner Freizeit gerne gezeichnet, das sah sogar gar nicht so schlecht aus“, meinte Ruga. „Aber der hat ja gemeinsam mit dem Rest der Paladine die Insel letztes Jahr verlassen.“
    Peck schnaubte. „Da hätte man ja einen von denen doch mal gebrauchen können …“
    „Dann würde ich bitten, mal innerhalb der Miliz herumzufragen, wer sich das zutraut. Sie haben ja den besseren Draht zu Ihren Kollegen. Erwähnen Sie nur bei Bedarf, dass ich das angeordnet habe. Ich will nicht direkt mit der Befehlskeule kommen.“
    „Kann ich machen“, sagte Peck und wandte sich schon zum Gehen. „Es muss sowieso jemand kommen, der sich mit Wunden und so auskennt, für die Feststellung der Todesursachen, Agon oder jemand anderes. Da kann ich dann direkt einen mitbringen, der zeichnen kann.“
    „Einen Moment“, bat Javert. „Können Sie schreiben?“
    „Ja“, sagte Peck ungerührt.
    „Können Sie schreiben?“, wiederholte Javert die Frage an Ruga gewandt.
    „Natürlich kann ich das“, sagte der Milizionär mit der Armbrust am Gürtel, und er wirkte auf die Frage deutlich entrüsteter als sein Kollege. Er musste dann aber auch fast ein wenig lachen. „Erzählt man sich in der Großstadt etwa, dass das Inselvolk sowas nicht kann?“
    „Kann ich ja nicht wissen“, gab Javert zurück. „In meinem Heimatdorf konnte das nicht jeder. Ich selbst habe es auch eher spät gelernt. Wäre jedenfalls keine große Sache. Nichts für ungut, ich schaue nicht auf irgendwen herab. Ich komme ja selber nicht gebürtig aus Vengard, und mit der typischen Arroganz der Großstädter gegenüber Dörflern konnte ich noch nie etwas anfangen.“
    Peck und Ruga grinsten sich zu. „Das ist doch mal ein Wort“, sagte Peck hörbar erfreut.
    „Passen Sie auf“, fuhr Javert dann fort. „Dann machen Sie beide mit mir die weitere Durchsuchung hier. Mir geht es vor allem darum, ob wir Dokumente oder sonstige Schriftstücke finden können. Alles, egal was es ist. Wir sortieren noch gar nicht vor sondern raffen alles zusammen, was wir finden können, und nehmen es mit in die Kaserne. Da schauen wir dann in Ruhe. Nach allem, was wir bisher über diesen Mann wissen“, – er ließ seinen Blick noch einmal kurz über den Körper des Mannes gleiten, der dort noch immer wie aufgebahrt mit dem aufragenden Schwert im Bauch lag – „glaube ich, dass wir hier etwas in der Richtung finden werden, und vielleicht auch nicht wenig. Vor allem muss er diese Leute hier von irgendwo her bekommen haben. Freiwillig haben die das sicher nicht mitgemacht.“
    „Verrückte gibt es immer“, kommentierte Ruga schulterzuckend.
    „Damit haben Sie Recht, aber gleich fünf auf einmal wäre doch sehr unwahrscheinlich, das gilt auf der Insel wie auf dem Festland gleichermaßen.“
    „Und wer kümmert sich jetzt um die Leichen? Und einen Zeichner? Und das alles?“, fragte Peck.
    „Gehen Sie kurz runter und geben Sie Boltan Bescheid, der soll zur Kaserne gehen und Unterstützung holen. Er wird ja selber am besten wissen, was und wer dafür gebraucht wird. Wir sind ja noch hier, für den Zeitraum muss niemand den Tatort bewachen. Wir haben ja alle ein Ohr auf die Treppe. Und sagen Sie ihm, er soll Kommandant Wulfgar über alles Bescheid geben, sofern er wieder im Dienst ist. Damit ich auch einen direkten Vorgesetzten im Nacken sitzen habe und nicht nur Sie.“
    Peck grinste wieder und machte sich dann auf den Weg die Treppe herunter.
    Ruga hatte sich währenddessen schon daran gemacht, über die verstreuten Leichen herüberzusteigen und sich an die kleinen Kommoden und Schränke im Raum zu begeben und Schublade um Schublade zu öffnen.
    „Entweder, der Kerl hat es sich hier in kürzester Zeit gemütlich eingerichtet, oder aber das ganze Gerümpel stand schon vorher hier herum“, sagte er halb über die Schulter gewandt, während Javert, bemüht darum, die Toten nicht zu lange anzusehen, ebenfalls weiter in den Raum hinein stakste.
    „Vielleicht sogar beides“, sagte er, konzentriert darauf, nicht auf einen herumliegenden, nur noch zur Hälfte am Körper eines Mannes hängenden Arm zu treten. Als sein Stiefel kurz dessen Hand streifte, lief ihm ein kalter, eigentümlicher Schauer den Rücken herunter. „Ich glaube, dass er die Morde schon länger geplant hat. Das scheint ja eine ganze Inszenierung gewesen zu sein. Deshalb glaube ich auch, dass wir hier irgendwelche Schriftstücke finden können.“
    „Richtig geglaubt“, sagte Ruga, der gerade aus dem Regal in einem dunklen Nussbaumschrank ein Bündel Pergamente hervorholte. Javert ging ein paar Schritte auf Ruga zu, sich trafen sich in einer Ecke des Raumes nahe dem vernagelten Fenster, so weit weg von den Leichen, wie es hier möglich war. Aus den wenigen Schlitzen zwischen den Brettern drang genug Licht herein, um die Pergamente lesen zu können. Die eindeutigen Symbole hätten Javert aber schon gereicht, um zu erkennen, worum es sich bei ihnen handelte.
    „Magische Spruchrollen, oder?“, fragte Ruga. Javert nickte. Die oberste war eine Feuerpfeil-Spruchrolle, leicht erkennbar an der Flammendarstellung und dem aufgemalten roten Punkt. Der restliche Bestand der Spruchrollen sprach dann eine eindeutige Sprache: Schlaf, Kontrolle, Freundlich stimmen, Vergessen … Javert blätterte vorsichtig durch das Konglomerat an Zaubern, die aus gutem Grund auch auf dieser Insel für die Allgemeinheit absolut verboten waren. So absolut, dass ein einzelner Mann offenbar gleich einen ganzen Packen von ihnen erstehen konnte. Beim letzten Pergament in der Sammlung hielt Javert inne. Ihm stockte für einen Moment der Atem. Ruga schien das zu bemerken.
    „Was ist das für ein Zauber?“
    „Pyrokinese“, sagte Javert und blickte Ruga scharf an. Dessen Augen verrieten, dass er von diesem Zauber zumindest schon einmal gehört hatte. „Vielleicht sind wir doch gar nicht so sehr zu spät gekommen, wie wir dachten, sondern gerade noch früh genug.“
    Schritte ertönten aus dem Treppenhaus, das Holz knarzte schwer unter mindestens einem Beinpaar. Kurz darauf steckte Peck den Kopf zur Dachkammer herein. „Boltan ist unterwegs“, teilte er mit. „Die frische Luft hat ihm gut getan, mir auch. Es stinkt hier drin wirklich bestialisch, aber was auch sonst. Bevor wir weitermachen: Können wir versuchen, das Fenster wieder frei zu machen?“
    Gesagt, getan. Nachdem sie fast alle Bretter entfernt hatten, war es zumindest deutlich heller in der Dachkammer geworden, und mit ein bisschen Fantasie und Hoffnung konnte man sich auch einbilden, dass der Geruch nach Blut und beginnender Verwesung langsam nach draußen abzog.
    Javert und die beiden Milizionäre machten sich dann daran, den Raum weiter bis in jeden Winkel zu untersuchen und trugen dabei einiges an Gegenständen – darunter einige Messer, benutzt wie unbenutzt – und tatsächlich noch einen respektablen Stapel an Schriftstücken zusammen. Während ihrer Arbeit traf dann auch die Unterstützung ein, in Gestalt von weiteren drei Milizionären, die Javert noch nicht kannte, und einem jüngeren Mann, der keine Milizrüstung trug, und der Javert als Agon vorgestellt wurde, derjenige, der als Alchemist und Heiler fungierte und für die Miliz schon so manchen Totenschein ausgestellt hatte. Er schien relativ ungerührt von den vielen Leichen zu sein und wirkte auch sonst irgendwie abwesend. Javert sprach nur kurz mit ihm. Den zeichnenden Milizionär, ein junger Mann mit dunklen Haaren und auffälligem Oberlippenbart, instruierte Javert sicherheitshalber nochmal dahingehend, wirklich nur die Gesichter der Toten abzubilden. Zwei der neu angekommenen Milizionäre hatten große, schwarze Säcke dabei, in denen sie die Toten sodann verfrachteten. Der Schweiß stand ihnen dabei auf den Stirnen, mit so vielen Personen in der Dachkammer wurde es unerträglich heiß. Auch Javert spürte, dass er so langsam hier weg musste.
    „Ich würde Sie um Folgendes bitten“, sagte Javert an Peck und Ruga gewandt, vor einem dreibeinigen Schreibtisch stehend, einen Stapel aus zusammengetragenen Pergamenten vor sich aufgeschichtet. „Ich will diese Papiere so schnell wie möglich sichten, bevor noch irgendwelche Spuren kalt werden. Dazu brauche ich Ihre Hilfe. Ich würde Ihnen, Ruga“ – Javert nahm einen Teil der Pergamente vom Stapel und heftete sie mit einer mitgebrachten Klammer lose aneinander – „diesen Teil hier geben. Peck, Sie übernehmen diesen Teil.“ Javert teilte den restlichen Stapel noch einmal und übergab Peck vom Rest etwa die Hälfte, ebenfalls aneinandergeheftet. „Das Verbleibende übernehme ich. Ich würde Sie bitten, da Sie ja beide lesen und schreiben können“ – Javert schmunzelte ein wenig – „mir einfach eine kurze Inhaltsangabe zu den einzelnen Dokumenten zusammenzustellen und sie mir bis morgen Mittag auf meinen Schreibtisch zu legen, zusammen mit den Dokumenten selbst. Dann habe ich schonmal einen Überblick. Schreiben Sie alles heraus, was Ihnen bedeutsam oder auch nur seltsam vorkommt. Es genügen auch kurze Stichwörter, die den Inhalt einzelner Dokumente charakterisieren; Sie können auch gerne Ihre eigenen Ideen dazu notieren, was das bedeuten könnte, ob es eine Spur sein könnte, was in der Sache weiter zu unternehmen ist und so weiter. Ich vertraue da ganz auf Ihre kriminalistische Erfahrung.“
    „Na dann“, sagte Peck. „Und wer schreibt den Einsatzbericht?“
    „Das mache ich selbst“, sagte Javert. „Sie wollen ja auch irgendwann einmal Feierabend machen. Es ist heute eh viel zu warm, um lange zu arbeiten.“
    Peck und Ruga grinsten sich wieder wissend an.
    „Das ist ein gutes Stichwort“, sagte Ruga dann. „Feierabend, meine ich. Wollen Sie vielleicht heute Abend nach Feierabend mit uns noch den Tag ausklingen lassen? Wir gehen häufig … also, manchmal bei Coragon oder Moe vorbei für einen kleinen Absacker. Häufiger bei Coragon. Wären Sie da mit dabei? Vielleicht so als kleiner Einstand?“
    „Oh, danke für das Angebot“, sagte Javert. „Auch wenn ich bei Einstand ja das Gefühl habe, Sie wollen lediglich einen ausgegeben haben. Aber ich glaube, da muss ich passen. Das mag Ihnen wenig robust von mir vorkommen, aber mir steckt die lange Seereise immer noch ein wenig in den Knochen. Ich bin zu müde … und vielleicht auch einfach schon zu alt für so etwas.“
    Peck runzelte die Stirn. „Wie alt bist d … sind Sie denn? Ich bin doch wahrscheinlich sogar älter als Sie.“
    „Erwischt“, sagte Javert schmunzelnd. Innerlich war er hingegen gar nicht so sehr amüsiert über den Verlauf des Gesprächs. Er brauchte wirklich Zeit für sich, gerade nach so einem Tag. Andererseits war es wahrscheinlich nicht gut, sich von seinen Kollegen so abzukapseln, gerade als Neuling. Formell mochte er als Sonderermittler ihr Vorgesetzter in allen Sachen aus seinem Aufgabenbereich sein. In der Realität bestimmten aber allein sie, wo der Hase lang lief. Und später könnte es vielleicht zu spät sein, noch einmal engeren Kontakt zu knüpfen.
    „Na gut“, sagte Javert, „Sie haben ja Recht. Nach so einem Tag sollte man vielleicht noch ein wenig beieinander sitzen, statt alleine im stillen Kämmerlein. Holen Sie mich dann einfach in der Kaserne ab, wenn Sie heute Abend losziehen, ich werde noch da sein. Ich hoffe ja, Sie machen früher Feierabend als ich. Aber erwarten Sie nicht, dass ich lange durchhalte! In der Großstadt bin ich ein bisschen zum Weichei geworden, glaube ich.“
    „Alles gut“, sagte Peck. „Freut mich, dass Sie mit dabei sind.“
    „Gut“, sagte Javert. „Dann würde ich mal sagen, wir stehen den anderen Herrschaften hier nicht weiter im Weg herum und machen uns mit dem Papierkram auf zur Kaserne. Ich könnte so langsam auch ein bisschen frische Luft vertragen, ehrlich gesagt. Ist Wulfgar wieder im Dienst, hat Boltan etwas gesagt?“
    „Boltan hat gerade gesagt, dass Wulfgar noch immer krank ist.“
    „Hm, wenn das so ist“, sagte Javert etwas ratlos. „Aber gut, man sollte sich ja eigentlich freuen, wenn der eigene Vorgesetzte mal etwas unpässlich ist, stimmt’s?“
    Peck und Ruga warfen sich wieder ihr Grinsen zu, und Javert stimmte schmunzelnd mit ein.

    Es war Sommer und auf Khorinis noch bis in den Abend hinein sehr lange hell, weshalb Javert die rote Kerze auf seinem Schreibtisch in seiner kleinen Stube in der Kaserne nicht anzünden musste. Er fragte sich, ob er es schaffen würde, seinen Einsatz als königlicher Sonderermittler auf Khorinis zu absolvieren, bevor die Kerze verbraucht war. Das hing im Wesentlichen weniger von der Kerze, sondern vielmehr davon ab, wie zügig er seinen Auftrag erfüllte.
    Da er von Peck und Ruga noch keine Berichte bekommen hatte – das hatte er auch gar nicht erwartet –, hatte er den weiteren Tag zunächst dazu genutzt, den Einsatz- und Durchsuchungsbericht zu verfassen, zumindest, so weit er es schon konnte. Das Hauptschriftstück war mit knapp drei beschriebenen Pergamentseiten geradezu schmal, zum Großteil hatte er auf Anlagen verwiesen, die noch kommen sollten. Diese Art der Bürokratie, die er aus Vengard mitgenommen hatte, war auf Khorinis nicht mehr ganz neu, denn in Teilen hatten sie schon die Paladine auf die Insel gebracht und in der Miliz über den damals als Kommandant eingesetzten Lord André eingeführt. Wulfgar, vom Rang Hauptmann der Miliz und nach Abreise der Paladine Andrés Nachfolger im Amt, hatte zwar etwas verkniffen geantwortet, als Javert ihm im Schriftwechsel vor seiner Anreise gebeten hatte, ein Karteisystem vorzuhalten, aber schließlich hatte Javert alles vorgefunden, was er für seine Arbeit benötigte. Er hatte gerade ein Pergament vor sich liegen, in dem er mit kritzelnder Feder diverse Auffälligkeiten und Spurenansätze in dem Fall vermerkte, die er noch verfolgen wollte. Da er den Namen des Mannes, der – aller Wahrscheinlichkeit nach – erst seine Gäste und dann schließlich sich selbst getötet hatte, zu Beginn seiner Notizen noch nicht gekannt hatte, hatte er ihn als „Verdächtiger 001“ bezeichnet, wobei er die Nummerierung nur aus Gewohnheit gewählt hatte, weil die Akten in Vengard standardmäßig immer so geführt wurden. Mit einer dreistelligen Verdächtigenzahl rechnete Javert natürlich nicht. Indes: Wenn die Sache hier wirklich nicht nur bei einem reinen Mordfall bliebe – was allein auch gar nicht in Javerts Zuständigkeit als Sonderermittler gefallen wäre –, dann würde es sicher nicht bei nur einem Verdächtigen bleiben.
    Zwischenzeitlich hatte Javert aber doch noch den Namen des Verdächtigen in Erfahrung bringen können, oder jedenfalls den Namen, den er sich selbst gegeben hatte: Fedolar. Entnommen hatte Javert diese Selbstbezeichnung dem Packen an Pergamenten, die er zur Durchsicht aus der Dachkammer des Lagerhauses mitgenommen hatte. Bei diesen Dokumenten handelte es sich um verstreute Selbstbeschreibungen, Notizen und Absichtserklärungen des Künstlers, als den Fedolar sich verstand, verbrämt mit weltanschaulichen Versatzstücken sowie künstlerischen und wissenschaftlichen Konzepten, die allesamt in Wirrnis mündeten. Den Wahrheitsgehalt der darin niedergelegten Informationen betrachtete Javert daher entsprechend kritisch, aber einige der Eckpunkte – wie eben auch der Name des Mannes – waren übereinstimmend immer wieder aufgetaucht, sodass Javert ihnen eine gewisse Plausibiliät beimaß. Bei der Suche nach den Hintermännern des Ganzen, oder besser gesagt, nach denjenigen, die Fedolar seine fünf Publikumsgäste geliefert hatten – so Javerts Hypothese –, hatte das aber nicht geholfen. Dabei galt diesem Punkt momentan Javerts Hauptaugenmerk, denn diese Hypothese war es, die ihn überhaupt als Ermittler in diesen Fall mit hineinzog. Irgendwo mussten diese bisher namenlosen fünf Männer und Frauen hergekommen sein, irgendwer musste sie Fedolar vermittelt haben. Fedolar allein hätte höchstwahrscheinlich nicht fünf – mutmaßliche – Fremde dazu bewegen können, dieses grauenhafte Schauspiel im Lagerhaus bis hin zum eigenen Tod mitzumachen. Für den Aufzug einer Selbstmordsekte mit Fedolar als Anführer sprach momentan jedenfalls nichts, zumindest sah Javert das so, wobei er bei sich selbst durchaus eine verzerrte Wahrnehmung einpreiste: Wer einen Hammer als Werkzeug hatte, der sah überall nur Nägel, und entsprechend sah Javert in diesem Fall möglicherweise nur deshalb den Anfangsverdacht eines Menschenhandels, weil er genau für solche Fälle nach Khorinis abgeordnet worden war. Oder besser gesagt, sich hatte abordnen lassen, als der königliche Polizei- und Ermittlungsdienst diese Stelle ausgeschrieben hatte. So gesehen war Javert im Auftrag des Königs oder jedenfalls des Königshauses unterwegs, wobei er mit der Abordnung nach Khorinis der Weisung der dortigen Institutionen, namentlich der Miliz, unterstand, sofern diese Weisungen nicht in Konflikt mit seinem Ermittlungsauftrag gerieten. Es war ein relativ kompliziertes Geflecht, in das nicht nur Wulfgar als Kommandant der Miliz, sondern im Zweifel sogar der Statthalter hineinregieren konnte, welcher formal Befehlsgewalt über die Miliz hatte, dabei aber seinerseits an Weisungen aus Vengard gebunden war, sofern diese Weisungen wiederum die der Insel Khorinis zugesicherte Autonomie nicht verletzten.
    Statthalter von Khorinis war dabei seit kurzem ein Mann namens Valentino, nachdem Larius vom König abgesetzt worden war und dessen eigentlich avisierter Nachfolger Fernando wegen illegaler Waffengeschäfte erst im Gefängnis gelandet und dort dann überraschend an einer bis dato unerkannten Herzkrankheit gestorben war. In diesem Machtvakuum hatte Valentino, der in der Hafenstadt Khorinis einen eher zweifelhaften Ruf genoss, es geschafft, durch viel Geld und einige Beziehungen zu einflussreichen Gönnern diesen Posten zu ergattern. Dem Vernehmen nach hatte man es innerhalb der komplizierten Wechselseitigkeiten aus Diplomatie, Kalkül und einem Schmiermittel namens Gold am königlichen Hofe nicht richtig verhindern können oder wollen, dass Valentino neuer Statthalter von Khorinis wurde, obwohl man ihn für denkbar ungeeignet für diese Aufgabe hielt. Man hatte schon Schlimmstes befürchtet, war dann aber sehr erleichtert darüber gewesen, dass Valentinos Amtsverständnis eher repräsentativer Natur und vor allem sehr freizeitorientiert war, sodass sich der nicht mehr ganz so junge Geck vor allem auf festlichen Anlässen herumtrieb, während er den verwaltenden Teil des Amtes dem städtischen Sekretär Cornelius überlassen hatte, der, nach langer Kur in Kap Dun endlich wieder genesen, die Rolle des unbeeinflussbaren und fleißigen Bürokraten seither wieder zuverlässig ausfüllte.
    Javert verbot sich ein Seufzen. Er war da ganz schön in Etwas hineingeraten, aber er hatte es ja so gewollt, oder jedenfalls selbst so für sich entschieden. Von dem Kompetenzgewirr auf der einen Seite und dem Körpergewirr von heute Mittag im Lagerhaus auf der anderen, speziell von letzterem, war ihm ganz flau im Magen geworden. Er hatte noch nichts gegessen und verspürte auch nicht den Drang dazu. Für eine Pause war er gerade einfach zu unruhig.
    Er schob seinen Vermerkszettel zur Seite und zog noch einmal das Vernehmungsprotokoll über die bisher einzige Zeugenaussage in diesem Kriminalfall zu sich heran. Ein arbeitsloser Schiffsbauer namens Garvell war der entscheidende Tippgeber gewesen, der den Einsatz am Lagerhaus überhaupt erst ausgelöst hatte. Deshalb hatte ihn Javert am vergangenen Nachmittag noch einmal zur Kaserne bestellen lassen, um ihn persönlich und in Ruhe zu befragen. Garvell hatte allerdings nichts sagen können, was über seine bereits kundgetanen Beobachtungen hinausging: Er hatte gesehen, wie der Mann, den Javert als Fedolar identifiziert hatte, wie im Gänsemarsch mit den fünf Männern und Frauen hinter sich das Lagerhaus nicht weit von Garvells ehemaliger Werft betreten hatte. So ein Menschenauflauf am Lagerhaus war Garvell seltsam vorgekommen, weshalb er die Miliz alarmiert hatte. Im Gespräch mit Javert hatte er dann noch von sich aus zugegeben, dass er geglaubt hatte, dort würde mit Sumpfkraut gehandelt, und dass er auch deshalb die Miliz gerufen hatte, weil er selber einmal in der Unterstadt beim Rauchen erwischt worden war und nicht einsehen wollte, warum es anderen nicht genau so ergehen sollte. Tatsächlich hatte Javert bei der Durchsuchung gemeinsam mit Peck und Ruga ein klebriges Paket Sumpfkraut im Lagerhaus auffinden können, aber der Zusammenhang zum Geschehen in der Dachkammer blieb zweifelhaft und war im Ergebnis auch nicht so bedeutsam. Bedeutsamer war, dass Garvell auch auf mehrfache Nachfrage versichert hatte, dass er außer Fedolar und den fünf Männern und Frauen niemand sonst Verdächtiges am Lagerhaus gesehen hatte. Fedolar hatte die fünf ganz allein im Schlepptau gehabt. Javert hatte sich diesen Umstand mit den aufgefundenen Spruchrollen, insbesondere denen zur Kontrolle, erklärt. Er war sich dennoch sicher, dass Fedolar sich seine Opfer nicht selbst und einfach so beschafft hatte, indem er zufällige Personen auf offener Straße manipuliert hatte. Javerts Annahme war, dass es davor noch einen Schritt gegeben haben musste, in dem Fedolar seine Opfer vermittelt und zugeführt worden waren. Auf welchem Wege und unter welchen Umständen, das blieb aber noch im Dunkeln und war auch nicht durch Javerts Lektüre des kruden Künstlermanifests, das Fedolar im Wahn verfasst hatte, erhellt worden. Vielleicht, so hoffte er, hatten Peck und Ruga bei der Sichtung ihrer Dokumente mehr herausgefunden.
    Ein Klopfen am Türrahmen holte Javert aus seinen Gedanken. Wenn man vom Beliar sprach: Ruga steckte seinen Kopf in die Stube hinein. „Sie sind ja wirklich noch hier“, sagte er. „Ich habe mich noch ein gutes Stündchen Schlafen gelegt, bevor wir gleich losziehen. Peck wartet auch schon draußen auf dem Kasernenhof. Kommen Sie?“
    „Ja, ich bin sofort bei Ihnen“, sagte Javert und übertünchte seinen Widerwillen mit geschäftiger Eile beim Zusammenraffen der Dokumente. Ruga blieb währenddessen im Türrahmen stehen.
    „Warum sprechen Sie eigentlich so?“, fragte er.
    Javert hielt kurz inne beim Versuch, die Schreibfeder möglichst ohne Gekleckse aus dem kleinen Tintenfässchen zu ziehen. „Was genau meinen Sie?“
    „Naja, genau das“, sagte Ruga schmunzelnd. „Das mit dem Sie. Macht man das in der Großstadt so?“
    „Ach, nein nein“, sagte Javert, der seinen Schreibtisch nun endlich in zufriedenstellende Ordnung gebracht hatte. „Aber im königlichen Ermittlungsdienst macht man das so. In Vengard ist das wirklich ein Moloch, mehrere Abteilungen, hunderte von Ermittlern, dazu noch Verwaltungskräfte, Schreiber und so weiter, da kennt man sich irgendwann nicht mehr persönlich, und um die professionelle Distanz zu wahren, hat sich diese Anrede halt irgendwie eingebürgert. Das wirkt vielleicht ein bisschen versnobt, das kann ich schon verstehen, aber das ist einfach so drin.“
    „Wir sind hier auf einer Insel, und unsere Miliz hat nur eine Abteilung. Da gibt es keine professionelle Distanz“, erklärte Ruga. „Wenn ich mir vorstelle, ich muss mich gemeinsam mit meinem Kollegen mit irgendwelchen Trunkenbolden im Hafenviertel prügeln, und dann sage ich Entschuldigen Sie, werter Herr Kollege, würden Sie mir bitte helfen, den Fuß meines Angreifers aus meinem Gesicht zu entfernen … nein, das funktioniert so nicht.“
    Ruga lachte, Javert stimmte mit ein. Er hatte ja Recht.
    „Von daher würde ich vorschlagen, so lange du bei uns bist, Sonderermittler vom Festland und von Königs Gnaden hin oder her, bist du eben auch einer von uns, und hier auf Khorinis kennt man kein Sie, schon gar nicht in der Miliz. Natürlich nur, wenn Sie wollen. Aber ich dachte, ich sage Ihnen das einfach mal, wie das hier bei uns so läuft.“
    „Ja, danke“, sagte Javert sehr aufrichtig. „Ich will hier als der Neue ja auf keinen Fall direkt komisch auffallen, jedenfalls nicht, wenn es sich irgendwie vermeiden lässt. Aber nimm es mir bitte nicht übel, wenn ich ab und zu nochmal ins Sie verfalle. In meinem Heimatdorf haben wir ein Sprichwort, das lautet: Alte Gewohnheiten sterben langsam.“
    „Gut, gut!“, sagte Ruga sichtlich erfreut. „Gut, dass wir darüber gesprochen haben. Also dann: Kommst du?“

    Javert war schon ein wenig erleichtert, dass sich Peck und Ruga – zumindest für den Anfang, wie sie sagten – für Coragons Kneipe in der Unterstadt, die Taverne zur fröhlichen Mastsau, entschieden hatten, statt für Moes Kneipe im berüchtigten Hafenviertel, wo man sich, jedenfalls ab einer bestimmten Uhrzeit und ab einem bestimmten Pegel, offenbar nur noch mit Händen und Füßen unterhielt. Javert hatte sich fest vorgenommen, nicht zu lange zu bleiben und sich spätestens dann zu verabschieden, wenn die anderen doch noch den Gang herunter zum Kai wagen wollten.
    In Coragons Kneipe war es proppenvoll und ziemlich laut. Die Sommerhitze lag schwül in der Luft, während vom Tresen ein um das andere Bier und so mancher Wacholder herausgegeben wurde. Zwei Kellnerinnen, die eine Coragons Tochter, wirbelten um die Tische herum und versuchten allen Kundenwünschen – jedenfalls denen, die auf der Getränkekarte standen – so gut es ging nachzukommen. Javert saß mit Peck und Ruga an einem Tisch in einer der ruhigeren Ecken der Taverne. Sie waren nicht die einzigen Milizionäre hier, insgesamt aber war das Publikum gemischt. Bevor Valentino zum Statthalter ernannt worden war, hatte er sich, so hieß es, als seltener Gast aus dem Oberen Viertel auch ab und zu bei Coragon sehen lassen und dabei aus purer Überheblichkeit nicht nur einmal die Zeche geprellt, bis ihm einmal ein Fremder dafür die Ohren langgezogen hatte. Die Geschichte wurde hier gerne und oft erzählt, und seit Valentino die Geschicke der Stadt lenkte oder dies zumindest für sich in Anspruch nahm, hatte die Anekdote an neuer Beliebtheit gewonnen und wurde ein ums andere Mal mit neuen, spektakulären Details angereichert, von denen das abenteuerlichste wohl war, dass man Valentino nach der Abreibung mittels seines eigenen Gehstocks halbnackt am Tavernenschild aufgehangen hatte, bis ihm das Gold für seine Rechnung von alleine aus der Hose gepurzelt war.
    „Das heißt, Boltan ist im Prinzip auch gar nicht so lange dabei, wenn man so will“, schloss Javert aus dem, was Peck und Ruga ihm gerade erzählt hatten.
    „Jedenfalls, was den Dienst auf der Platte angeht, ja“, bestätigte Peck. „Also auf der Straße, meine ich.“
    Boltan war vorher für die Aufsicht über die Gewahrsams- und Gefängniszellen in der Kaserne zuständig gewesen, bevor man das Gefängnis erneuert und um einen unterirdischen Trakt deutlich erweitert hatte. Ausgewechselt worden war er, nachdem – und vielleicht auch weil – Fernando in seiner Zelle einen plötzlichen Herztod erlitten hatte. Bei einem gewöhnlichen Schläger und Trunkenbold aus dem Hafenviertel hätte niemand etwas dabei gesagt; da es sich mit Fernando trotz seiner Verurteilung aber um einen nach wie vor mit Rang und Namen ausgestatteten Kaufmann aus dem Oberen Viertel gehandelt hatte, hatte man seitens interessierter und einflussreicher Kreise nach Konsequenzen gerufen. Und eine davon war gewesen, dass das Gefängnis erneuert und Boltan wieder in den Streifen- und Ermittlungsdienst der Miliz geschickt worden war.
    „Und du?“, fragte Peck. „Wie gefällt es dir bisher hier?“
    Javert legte den Kopf schief. „Ich bin ja gerade erst einmal angekommen. Das heute Mittag war ja schonmal ein ordentlicher Einstand, was? Ich kann nicht sagen, dass mir das besonders gut gefallen hat. Mein Magen ist immer noch etwas nervös, deshalb werde ich heute Abend auch nicht so viel trinken. Aber so etwas gehört nun einmal dazu. Ist ja nicht so, dass man in Vengard nicht auch heftige Sachen sieht. Aber so etwas direkt zu Beginn …“
    „Ja, das kann ich verstehen. Mit der Zeit stumpft man ab, aber das war schon wirklich krass heute. Ach, und Stichwort trinken …“ Peck lehnte sich in wagemutiger, geradezu akrobatischer Weise nach hinten von seinem Hocker, um Blickkontakt mit einer herbeihuschenden Kellnerin aufzunehmen. „Wann sind wir denn eigentlich mal dran mit bestellen?“
    Die Kellnerin kam sofort und ohne Umschweife zum Tisch. Wenn man, wie Peck und Ruga, in Milizuniform in die Kneipe kam, wurde man vorrangig behandelt. Javert hatte noch keine eigene Uniform und saß deshalb in seiner etwas zerlumpten Reisekleidung am Tisch und hatte das Gefühl, auszusehen wie frisch von seinen Kollegen festgenommen.
    „Was darf es denn sein?“, fragte die Kellnerin über ihre eigene Schulter gewandt, während sie von einem anderen Tisch leere Bierhumpen behände auf ihrem bereits ziemlich vollgestellten Tablett drapierte. „Drei Dunkle Paladiner?“
    „Jo“, sagte Peck und Ruga nickte, aber Javert grätschte dazwischen.
    „Also, wenn es keine Umstände macht, hätte ich für heute gerne etwas nicht ganz so Starkes“, sagte er.
    „Ach komm!“, meinte Peck. „Das kann doch nicht dein Ernst sein! Willst du dich gleich am ersten Abend unbeliebt machen oder was?“
    „Peck!“, ging Ruga dazwischen. „Schnaps ist Schnaps und Dienst ist Dienst, aber bitte vergiss nicht, dass unser Kollege hier uns eigentlich vorgesetzt ist, okay? Stichwort unbeliebt machen …“
    „Schon in Ordnung“, winkte Javert ab. „Aber wie gesagt, ich bin noch müde von der Reise und habe außerdem den ganzen Tag nichts gegessen. Ich habe es zwar nicht weit von zu Hause bis zur Kaserne, aber wenn ich mir heute Abend die Kante gebe, dann müsst ihr mich morgen früh mit der Schubkarre abholen kommen.“
    „Wir hätten noch Wein im Angebot“, sagte die Kellnerin. „Oder Wasser.“
    „Naja, Wasser“, scherzte Javert. „Ich will mich ja nicht waschen.“ Peck lachte laut auf.
    „Was trinkt man denn in Silden?“, fragte Ruga.
    „In Silden …“, überlegte Javert. „Da trinkt man manchmal gerne ein Mischgetränk aus Bier und Milch.“
    „Milch hätten wir noch“, sagte die Kellnerin. „Wolfsmilch sogar.“
    „Dann hätte ich gerne einen Humpen Bier und Wolfsmilch, halb-halb bitte“, schloss Javert. Die Kellnerin nickte zufrieden und machte sich auf zur Theke.
    „Bier und Milch“, wiederholte Ruga belustigt. „Das ist ja mal kurios. Und das ist so ein regionales Getränk bei euch in Silden? Hat das denn auch einen Namen? So Mischgetränke haben ja gerne mal lustige Namen.“
    „Hat es“, gab Javert zu. „Aber den verrate ich nicht. Noch nicht. Da fühle ich mich nur unanständig, wenn ich den in den Mund nehme!“
    Er zwinkerte verschwörerisch und Peck und Ruga lachten. Ein bisschen Schauspiel war bei Javert schon dabei, aber jetzt gerade war es mit den beiden gar nicht so übel, wie er befürchtet hatte. Die beiden wirkten wirklich freundlich, Ruga noch ein bisschen mehr als Peck, der aber auch in Ordnung zu sein schien. Eine gewisse Mindestdistanz wollte Javert aber dennoch wahren, man konnte ja nie wissen, und Ruga hatte es ja schon gesagt: Er war nicht auf der Insel, um in den Reihen der Miliz Freunde und Kollegen zu gewinnen.
    „So, und du kommst also gebürtig aus Silden“, griff Peck den Gesprächsfaden wieder auf. „Wie kommt man denn dazu, das idyllische Silden zu verlassen und dann in die Großstadt zu ziehen?“
    „Ach, so idyllisch ist Silden nun auch nicht“, lachte Javert. „Eher so ein bisschen kaffig. Wobei die Seen und Wälder schon ganz schön sind. Nein, verlassen habe ich Silden, weil eines Tages Besuch aus Vengard in der Stadt war. Das waren Beamte vom königlichen Ermittlungsdienst, die gezielt junge Leute rekrutieren wollten. Die haben auch in anderen Städten und Dörfern gesucht. Keine Ahnung, ob die damals Personalmangel hatten oder was, aber die Einstiegsvoraussetzungen waren jedenfalls nicht so hoch. Man musste vor allem lesen und schreiben können. Das Thema hatten wir ja heute am Nachmittag schonmal.“
    „Gut, dass du es gelernt hast“, sagte Ruga schmunzelnd.
    „Naja“, meinte Javert und lachte. „Ich hatte es schon gerade so ein bisschen gelernt, aber wirklich geübt war ich noch nicht. Ich habe ein bisschen geflunkert und, der Einstellungstest war … ich sage mal, ich bin in nicht vielen Sachen besonders gut, aber ich habe ein recht gutes Gedächtnis, würde ich sagen. Und die Anwerber sollten einfach alle nacheinander den gleichen Text laut vorlesen. Ich war der siebte an der Reihe und konnte das Ding dann eigentlich schon auswendig. Den Rest habe ich mir dann einfach später im Beruf beigebracht.“
    „Nicht schlecht“, meinte Peck. „Aber im Prinzip hast du dann ja geschummelt. Da kann man dir deine Stellung eigentlich direkt wieder wegnehmen, wenn das herauskommt, was?“ Er lachte.
    „Ach, das ist ja einer der Vorteile, wenn man formal Beamter des Königshauses ist“, sagte Javert. „Du musst zwar jeden Mist machen und hier parieren und da gehorchen, aber rausschmeißen können sie dich fast gar nicht. Mal ganz abgesehen davon, dass ich euch natürlich zur Verschwiegenheit über alles, was ich euch gerade erzählt habe, verpflichte!“ Javert setzte einen kleinen Lacher hinterher, weil er das Gefühl hatte, seine beiden Gesprächspartner könnten das sonst zu ernst nehmen.
    „Und wie ging es dann weiter?“, hakte Ruga nach. „Also, warum bist du dann aus Vengard wieder weg und jetzt hier auf Khorinis? Ist das auch irgend so ein Mist, denn du einfach machen musstest?“
    Javert schüttelte den Kopf. „Speziell dafür ausgesucht worden bin ich nicht. Aber es war klar: Einer aus der Abteilung muss es machen. Ich habe mich dann mehr oder weniger freiwillig gemeldet. Ich weiß auch gar nicht so wirklich, warum. Vielleicht, weil ich mal wieder was Neues sehen wollte. Vengard hat zwar auch schöne Ecken, aber so insgesamt gesehen … ich meine, eine Hauptstadt an der Küste, die es nicht mal schafft, nach Jahren der Planung endlich ihren neuen Hafen fertigzustellen, das sagt schon alles.“
    „Bitte was?“, entfuhr es Peck lachend.
    „Ja, das mit dem Hafen ist eine eigene Geschichte, dafür bräuchte ich einen ganzen Abend, um das zu erzählen. Es wäre zum Lachen, wenn es nicht so traurig wäre.“
    „In eurer Abteilung da in Vengard“, schaltete sich Ruga wieder ein. „Arbeiten denn da viele Leute? Ich meine, dass die extra jemanden nach Khorinis schicken, um … ja, was genau eigentlich? Um uns bei der Sache mit den vermissten Leuten zu helfen?“
    Javert ließ seinen Blick durch den Innenraum der Kneipe schweifen, als würde er nach etwas suchen, aber dann hatte er das Gefühl, dass er Ruga eine Antwort auf seine Frage schuldig war.
    „Im Prinzip ja“, sagte er. „Das ist jetzt aber nicht, weil man in der Hauptstadt denkt, die Miliz von Khorinis würde das nicht alleine hinbekommen, ehrlich.“
    „Ach“, winkte Peck ab. „Und wenn schon. Sie hätten ja Recht. Wir hatten vor ein paar Jahren schonmal ein ähnliches Problem, gar nicht so lange her. Und das hat dann im Wesentlichen auch jemand von außerhalb gelöst. Ist aber auch eine längere Geschichte für einen anderen Abend.“
    „Weswegen kommt denn dann jemand aus der Hauptstadt zu uns?“, fragte Ruga. „Einfach so zur Unterstützung? Also, ich frage mich immer, was Vengard mit den Problemen auf Khorinis zu tun hat.“
    „Ja, das frage ich mich manchmal auch“, sagte Javert kehlig lachend. Nach einer Weile fuhr er fort: „Nein, die Sache ist die, dass die Vermutung ist, dass das mit den verschwundenen Leuten über Khorinis hinausgeht. Also, irgendwo kommen die ja alle her und irgendwo gehen die hin. Und da das vermutlich über Khorinis hinausgeht, war man der Meinung, dass die Ermittlungen vielleicht auch zentral von der Hauptstadt geführt werden müssen, also organisatorisch gesehen. So richtig ist man da aber auf keinen grünen Zweig gekommen, also hat man jemanden geschickt. Und jetzt bin ich hier.“
    „Also geht das Ganze mehr in die Richtung Menschenhandel, Menschenschmuggel und so? Mit Khorinis als Umschlagsplatz?“
    Bevor Javert in Gedanken eine Antwort formen konnte, kam die Kellnerin mit den bestellten Getränken zurück.
    „Na endlich!“, kommentierte Peck. „Ich war schon kurz vorm Austrocknen. Dann mal Prost! Und herzlich Willkommen auf Khorinis!“ Sie nahmen alle jeweils einen Humpen und stießen zur Mitte ihres Tisches an. Ab da wurde an diesem Abend nicht mehr über die Arbeit gesprochen.

    Aus Vorsicht, auch weil ihm immer noch ein wenig flau im Magen war, hatte Javert geduldig an seinem Getränk genippt und mit Peck und Ruga über dieses und jenes gesprochen, bis er einen guten Zeitpunkt gefunden hatte, um sich zu verabschieden. Er war müde und fühlte sich gleichzeitig sehr aufgekratzt, als er den kurzen Weg von Coragons Kneipe bis hin zur Kaserne zurücklegte. Er stieg dort die großen, steinernen Treppen hinauf, ging aber nicht hindurch bis zum Hof, sondern drehte davor nach links ab, wo er einmal um die Ecke bog und dann nicht weit von der Mauer des Kasernenbaus eine kleinere, unscheinbare Treppe hinabstieg, die ihn auf eine nicht allzu große Grasfläche führte, auf der ein kleines, robustes Steinhaus errichtet war. Es war nicht besonders schmuck, Mauern und Schindeln sehr grob und grau in grau, eingeschossig, und mit einem sehr abgeflachten Satteldach. Es bestand im Wesentlichen aus einem Wohnraum und einer kleinen, immerhin abgetrennten und sogar belüfteten Kammer für den Abort. Es gab nur ein einziges Fenster, das direkt neben der Haustür eingelassen war. Die Tür war ein kleines bisschen zu niedrig, sodass Javert sich – hochgewachsen, wie er war – ein kleines bisschen bücken musste, um ohne mit dem Kopf anzustoßen eintreten zu können.
    Diese kleinen Makel störten Javert nicht, er war vielmehr froh, dass er diese Behausung – samt Mobiliar – hatte übernehmen können, statt sich auf das zweifelhafte Angebot Valentinos einzulassen, ein Zimmer im Oberen Viertel zu beziehen. Hätte Javert das angenommen, hätte er sich von der städtischen Politik wie angefüttert oder direkt geschmiert gefühlt, und vermutlich war das Angebot auch genau so gemeint gewesen. Dass er stattdessen auf die ungleich bescheidenere Behausung direkt neben der Kaserne hatte ausweichen können, war einem Unglücksfall geschuldet, der sich gut eine Woche vor Javerts Ankunft auf Khorinis ereignet hatte. Das Häuschen war nämlich vor gar nicht allzu langer Zeit als Wohnung für einen Hausmeister und Gärtner für die Kaserne und die anliegenden Grünflächen erbaut worden, doch ebenjener Hausmeister war, nicht lange nachdem er sein Amt angetreten hatte, bei einem illegal ausgerichteten Fleischwanzenrennen ums Leben gekommen. Spontaner Herztod, hatte man seitens der Miliz festgestellt, möglicherweise begünstigt durch den hohen Wetteinsatz und das enge Fühler-an-Fühler-Rennen der zwei Top-Favoriten. Seitdem hatte das Häuschen leergestanden.
    Drinnen setzte sich Javert zunächst einmal ziellos auf den einzigen Stuhl im Wohnraum und blickte aus dem Fenster, als wollte er sichergehen, dass sich die Welt draußen binnen der Sekunde seines Eintretens nicht drastisch verändert hatte. Obwohl schon fortgeschrittener Abend, fiel immer noch genügend Licht ins Haus, sodass er die Öllampe gar nicht anzünden musste. Auch die Feuerstelle ließ er kalt. Das Klima auf Khorinis war gemäßigt, die Sommernächte waren warm, zu warm sogar für seinen Geschmack. In seiner ersten Nacht hatte er daher als erstes die dicke Daunenwäsche aus dem Bett verbannt und sie gegen eine dünnere Decke eingetauscht, um überhaupt schlafen zu können, was ohnehin mehr schlecht als recht gelungen war. Und ob er dieses Schlafdefizit heute ausgleichen konnte, das stand auch noch in den wolkenverdeckten Sternen, denn es war wirklich ein anstrengender Tag gewesen, an dem sich Javert dauerhaft getrieben gefühlt hatte.
    Javert stand vom Stuhl auf – die Decke war gerade so hoch, dass er aufrecht stehen konnte – und löste das Band aus seinen rotbraunen Haaren, die er wie üblich zu einem strengen Zopf zusammengebunden hatte. Dann zog er seine Reisekleidung aus und hängt sie neben seine Arbeitskleidung an einen Haken direkt neben der Tür. Hinter der Hütte mit Blick auf den Hafen hatte er sich eine kleine Waschstelle eingerichtet, mit einem Badezuber hinter einem kleinen Vorhang, einer Feuerstelle, einer Bürste und einem Stück Kernseife, das er vor seiner Abreise aus Ardea noch schnell von einem Straßenhändler für sein Reisegepäck erstanden hatte. Aber das Waschen hatte morgen noch Zeit, weshalb sich Javert, so wie er war und in Unterwäsche – ein Schlafgewand hatte er gar nicht erst mitgebracht – in sein Bett legte. Sein Fenster hielt er geschlossen, weil die Geräusche vom Hafen – vornehmlich Geschreie, Gejohle, kämpfende oder sich liebende Katzen sowie ab und an undefinierbares Geklirr – so noch ein wenig mehr gedämpft wurden.
    Kaum befand sich Javert in der Horizontalen, sprang der Gedankenkreisel in seinem Kopf wieder so richtig an. Das hatte er den Tag über schon erwartet, aber erst jetzt bemerkte er, wie sehr ihn die Ereignisse wirklich aufgewühlt hatten und wie wenig Momente der Ruhe er bei Tageslicht gefunden hatte. Da war es kein Wunder, dass das Fuhrwerk, das seine Gedanken trieb, nicht so einfach zum Stehen kam. Es war anstrengend, wie sich die Erlebnisse des Tages in seinen Erinnerungen überlagerten, verdreht wurden, von seinem Gehirn fortgeführt wurden, wie, als säße er noch in der Kneipe und spräche mit den Milizionären, oder als suchte er im Lagerhaus noch nach Dokumenten und Beweismitteln, um ihnen Nummern zu geben. Verdächtiger 001, Opfer 001 bis 005, Beweismittel 001 bis 012. Es war, als hätte sich in Javerts Kopf ein riesiger Karteikasten aufgezogen, den er selber nicht mehr geschlossen bekam, egal, wie sehr er sich darum bemühte. Und über die Karteikarten stapelten sich wieder und wieder die entblößten, verstümmelten Leiber der toten Menschen, die er heute gesehen hatte. Es war nicht einmal so, dass ihn diese inneren Bilder an sich in besonders große Angst oder Schrecken versetzen. In Unruhe brachte ihn vielmehr der Umstand, dass er sich einfach nicht von ihnen lösen konnte. Und das, obwohl er während der Durchsuchung so sehr darauf geachtet hatte, nicht zu lange hinzusehen, um nicht …
    … herauszufinden, dass du den Anblick vielleicht gar nicht so schlimm findest? Vielleicht sogar gut, schön, irgendwie anregend?
    Javert versuchte den plötzlichen Gedanken abzuschütteln und abzutun, aber es gelang ihm nur für eine Minute, bis er sich wieder Bahn brach.
    Könnte es das sein, was du fürchtest? Dass du die Gewalt in Wahrheit auch genießt? Vielleicht hast du dir ja deshalb diesen Beruf ausgesucht.
    Javert überlegte, kurz wieder aufzustehen, aber den Gefallen wollte er seinem Inneren nicht tun.
    Überleg mal genau, welche Situationen in deinem Leben es so gab, wo du Gewalt doch ganz gut fandest. Gibt es da nicht sogar sehr viele Hinweise, wenn du nur danach suchst? Hast du dir nicht auch mit den anderen immer die Arenakämpfe in Silden angesehen?
    Es ging alles wieder los. Mit der Abreise aus Vengard hatte er alle seine Probleme mitgeschleppt. Er musste jetzt ruhig bleiben, damit es nicht wieder so schlimm wurde wie früher. Er durfte jetzt nicht wieder so abrutschen, sonst …
    … wirst du hier direkt alles verlieren und auch nicht wiederbekommen. Es wird für dich alles immer nur noch anstrengender werden. Nie mehr schlafen, nie mehr essen. Das kann passieren, wenn du nicht aufpasst. Aber deshalb passe ich ja an deiner Stelle auf. Das war nur ein Vorgeschmack, eine kleine Warnung vor dem, was kommen könnte. Um dich wieder auf die richtige Spur zu bringen. Reiß dich zusammen und sei vorsichtig.
    Es dauerte noch eine ganze Weile, aber dann erfuhr Javert die Gnade eines ruhigen, wenn auch sehr kurzen Schlafes.

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    II.


    Rugas Bericht war vergleichsweise kurz, nur wenige Blatt lang. Wenn der Milizionär mit der gleichen Präzision schrieb, wie er angeblich mit der Armbrust schoss, dann war das nur von Vorteil. Peck hingegen hatte einen ganzen Packen an Papier vorgelegt und erfüllte damit das Klischee des eher grobschlächtig, aber nicht minder effektiv vorgehenden Milizionärs. Außerdem hatte er den Humorpreis gewonnen, weil er seinem Bericht ein Blatt vorgeheftet hatte, das die Aufschrift Dscha-Wer? trug.
    Auch im Stil und der Herangehensweise unterschieden sich die beiden Zusammenfassungen deutlich, wie Javert bei der raschen Lektüre feststellte.
    Ruga fasste seine gesamte Auswertung in wenigen Sätzen zusammen und kommentierte diese mit ein paar Stichworten, von denen „unergiebig“ wohl das häufigste war. Das deckte sich mit Javerts eigener Auswertung, der auch in seinem eigenen Stapel viel Versponnenes und wenig Greifbares über Fedolar erfahren hatte. Es zeigte sich wieder eine altbekannte Ermittlungserfahrung: Je mehr beschriebene Blätter, desto verwässerter die Papierspur. Immerhin hatte Ruga aus den wirren Tagebucheinträgen, Skizzen und Zeichnungen aber eine entscheidende Information herausdestillieren können, nämlich, dass aus einem kurzen Briefwechsel mit einem gewissen Herrn Moleratkönig hervorging, dass sich Fedolar mit eben dieser Kontaktperson in einer Höhle draußen vor der Stadt hatte treffen sollen oder wollen, um dort irgendetwas engegenzunehmen. Viel konkreter wurde Ruga in seiner Zusammenfassung nicht, aber nach der Lektüre seines eigenen Stapels ahnte Javert, dass das am dürftigen Ausgangsmaterial gelegen haben musste.
    Peck hingegen hatte sich in seinem Bericht auf Schwerpunkte beschränkt, diese aber detailliert ausgeführt und so manchen interessanten Ermittlungsansatz präsentiert. Beim ersten Drüberlesen war für Javert der Ansatz am interessantesten, danach zu schauen, wo man in der Stadt magische Schriftrollen bekommen konnte, vor allem diejenigen, die unter das allgemeine Verbreitungsverbot fielen, namentliche Kontroll- und Schlafzauber. Peck hatte diesen Ansatz lose und ohne großen Bezug zu dem von ihm ausgewerteten Material niedergeschrieben, was auch kein Wunder war, da der Milizionär das Pech gehabt hatte, sich in zwanzig Blatt des bedauerlicherweise unvollendet gebliebenen Theaterstücks Elementare Narretei einlesen zu müssen, in dem es offenbar darum ging, wie der Protagonist auf hoher See verzweifelt nach unsichtbaren Holzwürmern auf seinem Schiff suchte und dabei einfach keine fand.
    Javert rieb sich seine brennenden Augen. Die Nacht war für ihn recht kurz gewesen, und so hatte er schon unter den ersten zarten Sonnenstrahlen des Tages einen ausgiebigen Rundgang durch das Hafenviertel unternommen, einfach, um die Stadt etwas besser kennenzulernen und ein Gefühl dafür zu bekommen, wie die Leute hier lebten. Natürlich hatte er hier und da nach Hinweisen auf was auch immer gesucht: Zwielichtige Straßenhändler, verdächtige Blutspuren, kriminelle Diebesgruppen. Gefunden hatte er aber lediglich einen verlassenen Fischstand, die Hütte des Schlachters und eine kleine Rotte aus Fleischwanzen, die sich über ein paar Knochenabfälle hermachte. Javert hatte außerdem noch einmal das Lagerhaus besucht und kurz mit dem ihm noch nicht bekannten Wachtposten gesprochen, aber viel zu sagen hatten sich die beiden auch nicht gehabt. Als Javert dann zur Kaserne in sein Büro gekommen war, hatte er bereits die Berichte von Peck und Ruga auf seinem Schreibtisch liegen gehabt. Das hatte ihm Respekt abgenötigt. Auf Khorinis stand man offenbar deutlich früher auf als in Vengard, und wer hier soff, der konnte auch arbeiten.
    Bevor er selber weiterarbeitete, wollte er aber dem Büro des Hauptmanns am anderen Ende der Kaserne – Javerts eigener Schreibtisch war in einem alten, nicht wirklich benutzten Archivkämmerchen untergebracht – einen Besuch abstatten, um zu sehen, ob Wulfgar wieder im Dienst war. Schon von weitem sah Javert, dass die Tür zum Einzelbüro offen stand, aber als er sie erreichte, war von Wulfgar keine Spur. Stattdessen saß Wulfgars Stellvertreter Pablo am Schreibtisch, brütete über ein paar Dokumenten und fuhr sich unablässig durch seinen braun-grau melierten Bart. Als Javert sich mit einem dezenten Klopfen am Türrahmen bemerkbar machte, schaute er auf.
    „Ah, Javert!“, rief Pablo aus, schob die Dokumente beiseite und winkte seinen Besucher zu sich herein.
    „Guten Morgen“, sagte Javert. „Wulfgar ist immer noch nicht zurück im Dienst, nehme ich mal an?“, fragte er, den Fuß schon auf dem Türabsatz zum Gehen platziert.
    Pablo schüttelte den Kopf. „Liegt immer noch flach“, sagte er. „Setz dich doch.“
    Javert ließ sich auf dem Stuhl direkt gegenüber von Pablo nieder. Er sank dabei tief ins Polster ein und wirkte somit merklich kleiner als der Vizekommandant, obwohl sie an sich in etwa die gleiche Körperlänge haben mussten.
    „War mir heute in der Früh schon klar, dass er nicht wieder zurück ist“, erklärte Pablo. „Normalerweise ist er ja schon ab fünf Uhr morgens oder noch früher auf dem Kasernenhof und trainiert. Eine alte Gewohnheit aus der Zeit, als er selbst noch die Schwertkampfausbildung der Rekruten geleitet hat. Er wollte immer ein gutes Vorbild für die anderen Milizionäre sein. Ist ihm geglückt, würde ich sagen.“
    „Hm, Respekt“, murmelte Javert. „Ist es denn etwas Ernstes? Seine Krankheit, meine ich?“
    Pablo verschränkte die Arme und zuckte mit den Schultern. „Ich bin kein Heiler, und selbst die hat Wulfgar ja nie an sich rangelassen, wer weiß das also schon“, sagte er. „Aber nein, er wird sich eine Grippe oder sonstwas eingefangen haben, hat seine Frau jedenfalls angedeutet. Meine Frau und seine treffen sich manchmal auf dem Markt, da hat sie mal ein bisschen nachgehorcht. Klang ganz so, als würde er schon bald wieder auf dem Damm sein, wenn er sich nur gut ausruht. Und die Ruhe sei ihm auch gegönnt. Er ist ja auch nicht mehr der Jüngste und schiebt gefühlt trotzdem mehr Stunden als wir alle zusammen. Die meiste Zeit im Büro hier in der Kaserne, aber es ist nicht so lange her, da hat er noch ab und an Nachtschichten im Hafenviertel mitgemacht, um Präsenz zu zeigen oder was weiß ich. Ist schon ’ne Type, der Wulfgar.“
    Javert nickte weder zustimmend noch ablehnend vor sich hin und ließ seinen Blick dann durch das sehr aufgeräumte Büro schweifen. Es war, gemessen an der Größe der sonstigen Räume der Kaserne, auch ziemlich groß, ebenso wie der Schreibtisch selbst, der das Zentrum des Raumes bildete. Auf ihm wirkten die Papiere, die Pablo soeben beiseite geschoben hatte, sowie das graue Mäppchen, das auf ihm herumlag, geradezu verloren. Javert kannte das aus Vengard: Je höher der Rang, desto größer der Schreibtisch, desto größer das Büro. Manche Sachen waren auf dem Festland und auf der Insel eben doch vollkommen gleich.
    „Kann ich was für dich tun?“, fragte Pablo dann nach einer Weile. „Oder warst du nur hier, um nach Wulfgar zu sehen?“
    „Eigentlich nur, um nach Wulfgar zu sehen“, sagte Javert etwas zögerlich. „Ich will Sie auch gar nicht von Ihrer Arbeit abhalten. Aber, wo ich schon hier bin: Können Sie mir sagen, wo Peck und Ruga gerade sind? Ich hätte noch etwas mit ihnen zu besprechen.“
    „Nein, das kann ich Ihnen nicht sagen“, spöttelte Pablo. „Hat Ruga dir diesbezüglich nicht schon den Kopf gewaschen?“
    Javert entzwang sich einen kurzen Lacher. „Ach, dann hat er das in deinem Auftrag gemacht?“
    „Nein, natürlich nicht“, sagte Pablo vergnügt. „Aber er hat mir natürlich davon erzählt. Also, nochmal klare Ansage, hier gibt’s kein Sie, außer, wir reden über Frauen. Und das soll hier ja durchaus schonmal vorkommen.“
    Pablo lachte kurz; Javert schmunzelte und studierte mangels einer passenden Idee zu einer Erwiderung wortlos Pablos Geheimratsecken.
    „Ruga schaut gerade bei Bengars Hof vorbei, um da nach dem Rechten zu sehen. Wir von der Miliz übernehmen da ein paar … Schutzaufgaben, Wölfe, Banditen und so, um den Stadtsäckel ein wenig aufzufüllen. Peck müsste auf Streife im Hafenviertel sein, das ist eine Sache, für die ihn Wulfgar dauerhaft eingeteilt hat. Der Kerl hatte es halt auch mit seinem Hafenviertel.“
    „Ich war vorhin selber im Hafenviertel unterwegs und habe ihn gar nicht gesehen. Ist aber auch ziemlich verwinkelt dort, muss ich sagen.“
    „Ja, das ist wohl so“, stimmte Pablo zu und fuhr sich wieder durch seinen Bart. „Aber wer weiß schon, wo Peck sich wieder herumtreibt, ha! Ach, und wo wir gerade beim Hafenviertel sind, habe ich noch eine Bitte an dich, oder besser gesagt, etwas zur Kenntnisnahme.“
    „Was denn?“
    „Ich habe von der Sache in diesem Lagerhaus natürlich mitbekommen, auch, dass du angeordnet hast, dass Babo Zeichnungen anfertigt und die Bilder ausgehangen oder verteilt werden oder so.“
    „Ja?“
    „Bin ich nicht für und habe die Anordnung deshalb zurückgenommen. Es geht gar nicht darum, dass ich dir in die Parade fahren will, und ich weiß auch, das ist dein Aufgabenbereich, königlich abgesegnet und so. Aber hier auf Khorinis haben wir mit so etwas keine guten Erfahrungen gemacht. Das macht die Leute nur unruhig. Diese Zeichnungen, das könnten ja auch Kinder sehen! Und im Nu sind alle in der Stadt voller Panik.“
    „Naja, die Panik geht aber vor allem dann los, wenn irgendwann mal das erste Kind entführt wurde, oder? Dann wären doch alle froh gewesen, hätte man mal mehr in der Sache ermittelt.“
    „Ist schon richtig, aber das bringt mich dann auch schon zum zweiten Aspekt an der Sache, und den halte ich auch für ausschlaggebend.“
    Pablo stützte sich auf den Unterarmen auf und lehnte sich etwas über
    seinen Schreibtisch, sodass er nun weniger als eine Armlänge von Javert entfernt war.
    „Ermittlungstaktische Gründe“, raunte er dann. „Wenn die Schmuggler spitz kriegen, dass wir denen auf den Fersen sind, dann halten sie ja erst recht die Füße still. Wir sollten denen nicht mit der Tür ins Haus fallen, sondern zu einem günstigen Moment durchs Dachfenster einsteigen. Aber damit das klappt, dürfen wir vorher natürlich nicht anklopfen.“
    Javert nickte. „So habe ich das noch gar nicht gesehen“, sagte er. „Aber du hast Recht. Das war vielleicht ein bisschen voreilig von mir.“ Tatsächlich hatte Javert das Gefühl, die Anweisung am Vortag im Lagerhaus aus einer ungesunden Unruhe heraus getroffen zu haben.
    „Die Idee ist ja nicht völlig falsch!“, beteuerte Pablo und faltete seine Hände. „Ist nur der falsche Zeitpunkt, das ist alles. Nichts für ungut.“
    „Kein Problem“, sagte Javert. „Da bin ich eigentlich auch der gleichen Meinung. Keine Angst, ich bin nicht beratungsresistent, nur weil ich Beamter bin.“
    Pablo lachte ein kurzes Lachen, das in einen kleinen Husten überging. „Gut, gut“, sagte er. „Da bin ich ja beruhigt. Die Bilder sind hier in dieser kleinen grauen Mappe, die sollst du natürlich trotzdem bekommen.“ Er schob die Mappe zu Javerts Ende des Tisches rüber. „Wir haben unsere Vermisstenmeldungen bereits überprüft. Kein Treffer, war aber auch fast zu erwarten. Für uns sind die Fünf also bisher Unbekannte. Vielleicht findest du ja mehr heraus. Ist ja schließlich dein Spezialgebiet.“
    „Ich will es versuchen“, sagte Javert und stützte bereits demonstrativ die Hände auf den Stuhllehnen zum Aufstehen auf, als Pablo ihn doch noch einmal zurückhielt.
    „Und eines noch, dritte und letzte Ansage an diesem Tag“, sagte er.
    „Na da bin ich ja mal gespannt, was jetzt noch kommt.“
    Pablo warf sich in seinem Sessel zurück und spendierte seinem Gast ein breites Grinsen. „Deine Milizuniform!“, rief er aus. „Du kannst sie dir jetzt gleich bei Mortis abholen. Wenn irgendwo was zwickt oder scheuert oder nicht ganz passt, dann sag ruhig Bescheid, dann nehme ich dich in den Club auf. Geht uns nämlich allen so.“
    „Ach, ich bin da Kummer gewohnt“, sagte Javert und nutzte die Gelegenheit, sich endlich vom Stuhl zu erheben. „Danke für den Hinweis. Ich hole sie mir sofort ab und schaue dann, was ich mit dem angebrochenen Tag noch so anfange.“
    „Ich sehe schon“, sagte Pablo, „an dir ist ein echter Milizionär verloren gegangen. Bis demnächst dann!“
    „Ja, bis demnächst“, sagte Javert, griff die graue Mappe und machte sich auf zur kleinen Waffenkammer und Schmiede der Kaserne, wo Mortis die Milizuniform bereits zur Ausgabe vom Kleiderständer genommen hatte.
    „Ah, unser Neumilizionär, was?“, sagte er. Mortis war ein älterer Mann mit Glatze und buschigen, weißen Augenbrauen. Er trug nicht nur die Kleidung, sondern auch die Muskeln eines Schmieds. Esse, Amboss und Schleifstein in der Kammer zeugten von seiner Profession.
    „So ähnlich“, erwiderte Javert. „Zumindest darf ich auf Zeit so tun, als sei ich einer von euch. Ich bin ja eigentlich königlicher Beamter.“
    „Schlaft ihr um diese Zeit nicht noch?“, lachte Mortis, wartete aber auf keine Antwort. „Also, da ist das gute Stück“, sagte er und legte die rot-weiß-schwarze Uniform über die Theke. Insbesondere die braunen Schulterteile aus Leder wirkten dabei unangenehm steif. Bequem sah die Rüstung jedenfalls nicht aus. Dazu suchte Mortis noch ein Paar Stiefel aus einem Haufen hinter dem Tresen zusammen, der für Javert eher nach Ausmusterung ausgesehen hatte. Auf den ersten Blick hatten sie aber immerhin keine Risse oder Löcher. Eine Hose war nicht Bestandteil der Uniform, die durfte man aus dem eigenen Kleiderbestand anziehen, und da war Javert auch mächtig froh drum.
    „Die müsste ungefähr deine Größe haben, du bist ja auch so ein langer Kerl“, sagte Mortis. „Ist nur vielleicht ein bisschen breit, aber besser zu weit als zu eng. Die hat Wambo gehört.“
    „Wer ist Wambo?“
    Mortis verzog das Gesicht. „Schwierige Geschichte“, sagte er. „Wambo war auch mal bei uns. Dann hat er sich aber einen Haufen Scheiße geleistet. Ist erst degradiert worden, aber dann hat er einfach weitergemacht, und dann hat Wulfgar ihn vor die Tür gesetzt. Richtig so, meiner Meinung nach. Mir war der Kerl eh immer suspekt, davon mal ab.“
    „Was hat er denn gemacht, um rauszufliegen?“
    Mortis blickte kurz Richtung Tür, wie, um sicherzustellen, das niemand mithörte.
    „Hatte Kontakte zur Unterwelt“, erklärte Mortis. „Oder besser gesagt: Die Unterwelt hatte Kontakte zu ihm. Und die haben sie auch genutzt. Wambo war eine Zeitlang im Oberen Viertel als Nachtwache eingesetzt. Und dann gab es da diese Einbruchsserie und er will nie etwas gesehen haben. Klar, der war in der Zeit ja auch immer damit beschäftigt, sein Gold zu zählen. Als das aufgeflogen ist, ist er wieder zum Rekruten degradiert worden. Da war er eine Zeitlang der älteste Rekrut in der ganzen Miliz, mit Abstand!“ Mortis lachte. „Wulfgar hatte ihn nicht ganz rausschmeißen wollen, vermutlich hatte er Angst, ihn so endgültig an das Diebespack zu verlieren. Wambo war ja lange bei der Miliz, der hätte denen so einiges ausplaudern können. Hat er dann natürlich trotzdem gemacht, und außerdem hat er Beweise in einem Fall verschwinden lassen. Dann hat’s endgültig geknallt für ihn.“
    „Was war das denn für ein Fall, in dem er die Beweise hat verschwinden lassen?“
    „Ach, das weiß ich nicht mehr, ich glaube, so genau ist das auch gar nicht erzählt worden“, sagte Mortis. „Im Zweifel irgendwas mit Sumpfkraut. Da hätte ich auch schon eine Ahnung, wie genau er die Beweismittel vernichtet hat.“ Er schüttelte den Kopf. „Dieses Scheißzeug macht die Leute doch alle nur dulle in der Birne …“
    „Und was macht Wambo jetzt?“
    „Das ist mir ziemlich egal, Hauptsache, er hält sich von uns fern“, sagte Mortis. „Das letzte, was ich gehört habe, war, dass er sich wohl als privater Sicherheitsmann verdingt. Den würde ich auch sofort einstellen, jedenfalls wenn ich kein Problem damit hätte, dass mir unter seiner Aufsicht die halbe Bude unter dem Hintern weggeklaut wird.“
    „Spart man sich das Entrümpeln“, sagte Javert lakonisch. Sein Kommentar hatte Erfolg, die Miene von Mortis hellte sich wieder auf.
    „Ja, so gesehen … als Umzugshelfer wäre der Kerl eine Wucht, Spezialgebiet Nacht-und-Nebel-Aktionen.“ Der alte Schmied lachte.
    Javert sah sich ein wenig in der Schmiede um. Sie war doch ein gutes Stück größer, als er von seiner ersten kurzen Führung durch die Kaserne in Erinnerung hatte. So mancher freischaffende Schmied hätte sich über solche Räumlichkeiten gefreut. Die Esse hatte Mortis heute aber offenbar noch nicht angeschürt. Angesichts der langen Reihe an Schwertern, die an der Wand hingen, war das aber vermutlich auch gar nicht so dringend.
    „Ja, richtig, eine Waffe brauchst du ja auch noch“, sagte Mortis, der Javerts Blick offenbar gefolgt war. „Einhand oder Zweihand?“
    „Wenn, dann eher Einhand“, antwortete Javert zögernd. „Aber … ich brauche gar kein Schwert.“
    „Ja, wie?“, fragte Mortis verständnislos. „Was willst du denn dann in die Hand nehmen? ’Nen schweren Ast habe ich nicht hier, den musst du dir im Wald selber suchen!“ Mortis lachte wieder. Javert hatte das Gefühl, dass den Tag über nicht oft Leute vorbeikamen, die länger mit ihm sprachen. Dabei waren Gerüchten zufolge viele Schmiede nur deshalb Schmiede geworden, weil sie unter dem Ambossgehämmer ihre Mitmenschen nicht hören mussten. Und irgendwann auch gar nicht mehr konnten, weil sie durch die Arbeit halb taub geworden waren.
    „Ich bin es gewohnt, mit dem Degen zu kämpfen“, sagte Javert. Gefühlsmäßig schlug das gerade alles in die selbe Kerbe ein wie gestern Abend, als er in der Taverne ein Getränk mit Milch bestellt hatte.
    „Hm, ungewöhnlich“, sagte Mortis. „Jedenfalls für einen Milizionär. Vor vielen Jahren hatten wir mal einen, der hat auch immer nur mit dem Degen gekämpft. Jedenfalls, bis er dann von einem Waran gefressen wurde, aber wie hieß der Kerl noch … war gar nicht lange dabei … nee, komm’ ich jetzt nicht drauf. Der hatte seinen Degen aber schon selber mitgebracht. Sowas schmiede ich hier gar nicht, habe ich seit meiner Ausbildung auch nicht mehr gemacht, und die ist schon so lange her, da regierte noch Rhobar der Nullte, wenn du verstehst, was ich meine.“
    „Das ist wirklich gar kein Problem, ich kann mir auch selber einen kaufen“, beteuerte Javert. „Auf dem Marktplatz gibt’s ja sogar zwei Waffenhändler, habe ich gesehen.“
    „Drei sogar, wenn du Jora mitzählst, der verkauft ja allen möglichen Krimskrams“, sagte Mortis. „Das musst du dann aber aus dem eigenen Säckel bezahlen, fürchte ich.“
    „Das wird mich schon nicht umbringen. Danke für die Uniform!“ Javert raffte die Milizuniform mit den Stiefeln zusammen und wandte sich zum Gehen.
    „Die ziehst du am besten direkt an, wenn du auf den Markt gehst“, gab Mortis noch mit auf den Weg. „Gibt vielleicht Rabatt. Außer vielleicht bei Jora. Der hält die Miliz nämlich für Taugenichtse, die nicht einmal einen einfachen Taschendieb fangen können …“

    Es war schon etwas länger her, dass Javert einen Degen an seiner Seite, geschweige denn in der Hand zum Kampf geführt hatte. In Vengard hatte er mit dem Streifendienst – dem Dienst auf Platte, wie man hier auf Khorinis sagen würde – gar nichts mehr zu tun gehabt, und selbst wenn er einmal zu einer Durchsuchung mitgekommen war, hatte er die Waffe nur in besonderen Fällen mit sich geführt und dann auch so gut wie nie angerührt. In seiner Jugend hatte er aber recht viel trainiert. Schon damals in Silden hatte man seine Entscheidung für den leichten Degen statt für ein gewöhnliches Schwert als kuriose Marotte empfunden. Überhaupt fühlte sich Javert in der Uniform mit Wappen, den Stiefeln, der Waffe und dem Gefühl des Neuanfangs auf dieser Insel an seine Jugend, mehr noch an seine Anfangszeit in Vengard erinnert. Es war, als wäre er wieder Rekrut. Mit dem angenehmen Unterschied, dass ihm kein Hauptmann oder Leutnant ständig auf die Füße oder gleich in den Hintern trat.
    Den Degen hatte Javert bei einem Händler namens Hakon gekauft, nachdem ihm die andere Waffenhändlerin auf der gegenüberliegenden Seite des Marktplatzes einen eher genervten Blick zugeworfen hatte, der ganz offensichtlich dem Wappen auf seiner Uniform gegolten haben musste. Javert hatte schon verstanden, dass man als Milizionär in der Hafenstadt beileibe nicht überall Freunde hatte, und er hatte sich schon gefragt, ob es wirklich eine so gute Idee gewesen war, für den Einkauf im rot-weißen Dress aufzulaufen. Hakon aber schien auf die Miliz – in deutlicher Abgrenzung zu den Paladinen – große Stücke zu halten und hatte Javert interessiert über seinen Werdegang ausgefragt, wobei einige durch Hakon eingeflochtene Bermerkungen über den König dazu geführt hatten, dass Javert seine allzu enge Bindung an den königlichen Beamtenapparat eher relativierend dargestellt hatte. Ob der Preis von sage und schreibe dreihundert Goldmünzen für einen einfachen und zumal gebrauchten Degen dann wirklich ein Freundschaftspreis gewesen war, wie Hakon versichert hatte, das vermochte Javert nicht mit der letzten Sicherheit zu beurteilen.
    Javert verließ den Marktplatz und damit die Stadt nun über das Stadttor im Osten und war froh, dass die dort eingeteilten Wachen so sehr mit ihrer Langeweile beschäftigt waren, dass sie ihn nicht ansprachen und er sich ausnahmsweise mal nicht in seinem gesamten Hiersein und Dasein erklären und rechtfertigen musste. Außerdem war er froh, unter den Bäumen des reich bewaldeten Weges vor der prallen Sonne geschützt zu sein. Javert hatte zwar Gardemaß, aber stundenlanges Herumstehen in der Sommerhitze hätte ihn auch in seiner Jugend sofort in die Knie gezwungen, und so war es für ihn nie in Frage gekommen, sich irgendwo als Wachtposten oder gar bei den königlichen Gardisten zu bewerben.
    Javert hatte es sich deutlich schwieriger vorgestellt, sich außerhalb der Stadt zurechtzufinden, zumal als Ortsunkundiger. Auch deshalb hatte er eigentlich noch einmal Rücksprache mit Ruga halten wollen, zusätzlich zu einigen Rückfragen, die er zu dessen Bericht hatte. Denn durch Rugas Dokumentenstapel hatte er nicht ganz durchgeblickt und insbesondere auch nicht die Stellen ausfindig machen können, welche die Kontaktperson, der sogenannte Moleratkönig, ausgerechnet in einer Höhle vor der Stadt verorteten, noch dazu ohne Angabe weiterer Details oder auch nur der Himmelsrichtung. Letztlich war Javert aber zu ungeduldig gewesen um weiter auf Rugas Rückkehr zu warten und hatte für sich beschlossen, einen eigenen kleinen Erkundungsgang zu unternehmen. Und tatsächlich dauerte es nicht lange, bis er einen Höhleneingang im Osten der Stadt fand, nicht allzu weit vom Stadttor entfernt und nur mäßig versteckt hinter einem lückenhaften Gebüsch aus Waldbeerensträuchern. Die unverblümte Lage sprach grundsätzlich zwar dagegen, dass an diesem Ort konspirative Geheimtreffen abgehalten wurden, aber wenn Javert eines in seiner Laufbahn als Ermittler gelernt hatte, dann, dass man von Menschen, seien sie kriminell oder nicht, niemals erwarten durfte, dass sie sich stets rational und vernünftig verhielten. Wäre das der Fall gewesen, wären die allermeisten Verbrechen in der Menschheitsgeschichte niemals aufgeklärt – oder wahrscheinlich schon gar nicht erst begangen – worden.
    Als Javert durch die bauchhohen, leise raschelnden Sträucher trat und dann einen Fuß in die Steinhöhle setzte und dort in die Dunkelheit blickte, meldete sich bei ihm das, was er seit seiner Kindheit als seinen sechsten Sinn für Gefahr bezeichnete. Für ihn fühlte sich das an, wie wenn ihm jemand das rechte Ohr am oberen Ende der Ohrmuschel nach hinten in die Länge zog. Ein körperliches Gefühl der Spannung mitsamt dem Drang, sich umzuwenden. Dabei lag die Schwärze ja gerade vor und nicht hinter ihm. Letztlich hatte das Gefühl nicht allzu viel zu bedeuten; in Javerts Kindheit hatte es sich auch gemeldet, wenn er nachts heimlich das Haus verlassen hatte, um entgegen dem elterlichen Verbot die Irrlichter im Sildener Wald zu beobachten. Nichtsdestotrotz wanderte seine Hand kurz an den Griff seines neu erstandenen Degens an seinem Gürtel.
    Die Sonne stand ungünstig und vermochte die Höhle nicht besonders weit zu beleuchten. Dennoch machte Javert ein paar weitere Schritte hinein, in der Hoffnung, dass sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnen würden. Zur Sicherheit behielt er dabei immer eine Hand an der Höhlenwand. Die Wand war so kühl wie die Luft in der Höhle. Javert lauschte auf das charakteristische Schnarchen eines Schattenläufers, hörte aber nichts. Das beruhigte ihn bereits ein wenig. Erinnerungen ploppten auf, wie sie als Kinder in Silden ein – selbstverständlich ebenfalls durch die Eltern verbotenes – Spiel gespielt hatten, bei dem gewann, wer sich am weitesten in die Höhle des schlafenden Schattenläufers hinein wagte. Rückblickend gesehen war es ein Wunder, dass niemand von ihnen bei diesen Mutproben zu größerem Schaden gekommen war, zumal sie nicht nur einmal vor einem erwachten und äußerst wütenden Schattenläufer hatten wegrennen müssen.
    Javert hatte sich bis zu Beginn eines Höhlenarms vorgearbeitet, der eine großzügige Biegung hinein in die Dunkelheit machte. Weiter in die Höhle hinein konnte er ohne eine Fackel definitiv nichts mehr erkennen. Gerade, als er umdrehen wollte, um die Höhle wieder zu verlassen, glaubte er, ein leises Geräusch zu hören, das einem tiefen Seufzer glich. Schattenläufer seufzten nicht, auch keine andere ihm bekannte Tierart. Sofort strömten Bilder vor sein inneres Auge, wie in dieser Höhle massenhaft Sklaven versteckt wurden, bereitgehalten zum Weitertransport durch einen gewissen Moleratkönig oder andere Mittelsmänner. Javert verscheuchte diese Gedanken für einen Moment und lauschte gebannt in die Stille hinein. Jetzt hörte er eine Art kurzes Zischen, aber er war sich nicht sicher, ob es hier aus der Höhle kam, von draußen oder aus seiner Fantasie. Er war kurz davor, sich selbst dafür zu schelten, dass er gerade dem Wahn eines selbsternannten Künstlers auf dem Leim ging, als er etwas am Boden des Höhlengangs entdeckte, nicht weit von ihm entfernt. Auf den ersten Blick sah es in der flimmernden Dunkelheit aus wie eine Truhe oder ein Korb, dann eher wie ein Baumstumpf. Javert ging in die Hocke, um zu erkennen, was da lag und ob sich dieses Etwas wirklich bewegte, oder ob ihm seine Augen nur einen Streich spielten.
    Dann mischte sich ein Gelbton ins dunkle, verwaschene Braun. Das Etwas hatte ein Auge geöffnet. Javerts Beine wollten übernehmen, aber es ging auch für sie alles viel zu schnell. Metallenes Gerassel mischte sich in ein dunkles Grollen, das in ein Gebrüll erwuchs, welches Javert viele Jahre lang lediglich aus Erzählungen gekannt hatte. Blanke Panik ergriff ihn. Noch bevor Javert aus seiner Hocke aufgesprungen war, hatte ihn ein Schlag an die rechte Schläfe erwischt, erst dumpf, dann scharfkantig. Das Rasseln einer Kette verriet ihm, was ihn da getroffen hatte. Zum Glück keine echte Waffe, jedenfalls noch nicht. Javert fiel zurück, wirbelte herum, zog sich mehr mit seinen Händen aus dem Höhlenarm heraus als zu laufen und versuchte, so schnell wie möglich nach draußen zu gelangen. Auf halbem Weg zum Höhlenausgang erwischte ihn ein Schlag in der rechten Flanke. Javert fiel schreiend zu Boden und riss sich am Gestein gefühlt den halben Arm auf, berappelte sich aber sofort wieder, als das Gebrüll hinter ihm erneut anschwoll. Das Brüllen klang in seinen Ohren eher kläglich, deshalb aber nicht minder gefährlich. Licht und Schatten bildeten eine wilde Mischung, als er gen Höhlenausgang stolperte, und als er endlich draußen war und die dornigen Zweige der Waldbeerensträucher seine versehrten Arme streiften, war er für einen Moment lang so geblendet, dass er gar nicht sah, wie ein Milizionär auf ihn zu rannte und sich sodann zwischen ihn und das Ungetüm warf, das ihn bis nach draußen verfolgt hatte. Als erneut Gebrüll und Geschrei aufbrandeten, fiel Javert wieder auf die Knie und rollte sich durch das Gebüsch, möglichst weit weg vom Herd des Geschehens. Dreck wurde dabei aufgeschleudert, rieselte in seine Augen und fand sogar irgendwie den Weg in seinen Mund, er verlor einen Stiefel und spürte, wie sich Dornen durch seine Hose bohrten.
    „So eine verfluchte Scheiße!“, hörte Javert den Milizionär rufen, den er nun von der Rückseite dabei beobachten konnte, wie er entschlossen sein Breitschwert mehrfach auf seinen Gegner niederhageln ließ, jedes Mal quittiert mit lautem Gebrüll, wenn sich die Klinge durch Fell und Fleisch grub. Nach einigen Schwertstreichen brach der Ork unter einem letzten, lauten Todesschrei zusammen.
    „Das war’s mit dir, du Mistvieh“, kommentierte der Milizionär; das angestrengte Keuchen in seiner Stimme kaum zu überhören. Er beugte sich kurz in die Höhle hinein, offenbar um sicherzugehen, dass nicht noch weitere Angreifer nachkamen. Dann steckte er sein Schwert weg und eilte zu Javert.
    „Alles klar bei dir?“, fragte der Milizionär. Er war ein etwas beleibter, älterer Kerl mit lichten, schwarzen Haaren und einer auffallend großen Nase, die von einem Schnauzbart umspielt wurde.
    „Ja, ich …“, sagte Javert und griff sich an die Schläfe, wo ein respektables Rinnsal an Blut in seine rotbraunen Koteletten und den zugehörigen Backenbart gelaufen war und die Haare ganz klebrig gemacht hatte. „Es ging mir schon schlechter.“ Er brachte sich hastig wieder auf die Beine, um zu beweisen, dass es so schlimm schon nicht war. Sofort wurde ihm schwarz vor Augen, und bei dem Versuch, sich an einem Strauch festzuhalten, fiel er zurück auf seinen Hintern.
    „Langsam, langsam, Junge!“, mahnte der Milizionär ihn. „Bleib sitzen, ich hole Hilfe vom Stadttor!“
    „Ich … okay“, sagte Javert beim Versuch, sich so langsam wieder zu berappeln, und ließ den Milizionär dann ziehen. Kaum war er weg, schob Javert sich ein wenig durch die Sträucher hindurch, um einen Blick auf den toten Ork zu erhaschen. Leichter Grusel in Form eines prickelnden Schauers auf seinem Rücken ergriff ihn, als er die schmerzverzerrte und blutverschmierte Fratze des Humanoiden sah. Der Ork wirkte abgemagert, geradezu kränklich, und das braungrüne Fell, das ihn von seinen Artgenossen auf dem Festland unterschied, war an einigen Stellen schon ausgefallen. Die Wunden, die ihm der Milizionär zugefügt hatte und aus denen noch dickes, eitriges Blut quoll, zeichneten ihn nun noch zusätzlich. Um seine stämmigen Handgelenke trug er je eine metallene Fessel, die in der Mitte verbunden werden konnten, aber offen waren. Das gleiche Bild bot sich an den Füßen. Javert, der sich langsam wieder etwas erholt hatte, stand auf und wollte sich dem Ork weiter nähern, als auch schon der Milizionär mit einer der Torwachen als Verstärkung zurückkam.
    „Habe ich dir nicht gesagt, du sollst sitzenbleiben?“, sagte er, halb ernst, halb lachend. „Aber gut, wenn du wieder auf den Beinen bist.“
    „Ja, danke für die Hilfe“, sagte Javert, der es sich nicht nehmen ließ, den Ork weiter zu begutachten. Die Ketten, in die Ork gelegt war, waren ab dem Verbindungsstück in der Mitte nicht etwa durch pure orkische Kraft gerissen, sondern sauber aufgetrennt, vielleicht sogar aufgeschlossen worden.
    „Hätte nicht gedacht, dass noch einer von denen hier herumstreunt“, sagte der Milizionär, der nun neben Javert getreten war und einen fast mitleidigen Blick auf den Ork am Boden warf. „Kannst von Glück reden, dass ich gerade wieder von Akils Hof zurückgekommen bin, sonst wäre das vielleicht nicht so glimpflich ausgegangen.“
    „Ja, vielen Dank nochmal“, sagte Javert und wandte den Blick vom Ork ab. „Ich bin übrigens Javert“, sagte er dann und streckte dem Milizionär die Hand zum Gruße aus. Als Javert aber bemerkte, dass er sich seine Handfläche bei einem seiner Stürze aufgerissen hatte und entsprechend blutete, zog er sie verlegen wieder zurück.
    „Mika“, sagte der Milizionär. „Ich habe dich noch nie gesehen. Bist du neu in der Miliz?“
    „Ja“, sagte Javert nur. Er hatte entschieden, nicht jedem Milizionär seine ganze Lebensgeschichte erzählen zu wollen.
    „Ah, okay. Ich dachte nur. Ich bin ja die meiste Zeit hier draußen, und hier bekomme ich nicht alles mit. Man erzählt mir ja auch nichts mehr.“ Er lachte kurz auf und stemmte die Hände in die Hüften, offenbar unschlüssig, was er jetzt mit dem Ork einerseits und Javert andererseits anfangen sollte.
    „Bist du hier auf Patrouille?“, fragte Javert.
    „Kann man so nennen“, antwortete Mika und lächelte. Es gefiel ihm offensichtlich, nach seiner Aufgabe gefragt zu werden. „Eigentlich bin ich dafür zuständig, Reisenden irgendwelche Blutfliegen oder sonstiges Gezöge vom Leib zu halten. Das ist mehr, als man denkt. Ein Ork war aber schon lange nicht mehr dabei. Ich hatte eigentlich geglaubt, außerhalb des Minentals seien die auf Khorinis quasi ausgerottet.“
    „So hatte man es mir eigentlich auch erzählt.“
    Mika nickte. „Ist eigentlich auch allgemeine Meinung. Wenn ich mir den Zeitgenossen da aber mal genauer ansehe, dann sieht der mir aber auch eher wie ein orkischer Sklave aus. Wäre mir jedenfalls neu, das Hand- und Fußfesseln bei den Orks als Schmuck hoch im Kurs stehen. Und so abgemagert wie der ist …“
    Javert überlegte kurz, ob er genauer erklären wollte, was er in der Höhle eigentlich gesucht hatte, entschied sich dann aber dafür, einfach eine direkte Frage zu stellen.
    „Sind Orksklaven auf Khorinis denn noch üblich?“
    „Seit dem Zusammenbruch der Barriere eigentlich nicht mehr“, antwortete Mika etwas ratlos. „Seit den Friedensverhandlungen mit den Orks ist sowas ja eigentlich auch verboten. Aber wäre ja nicht das erste Mal, dass Khorinis ignoriert, was man auf dem Festland so beschließt.“ Mika spuckte demonstrativ einmal ins Gebüsch. „Ist ja auch genau richtig so, wenn du mich fragst. Was die hohen Herren in Vengard da so entscheiden, geht ja manchmal auf keine Kuhhaut …“
    Mika wanderte noch einmal um den Ork herum. Als er den Kopf des Orks prüfend mit seinem Stiefel anstieß, sodass er sich schlaff vor und zurück bewegte, überkam Javert wieder der altbekannte Schauer.
    „Was hast du da drinnen in der Höhle eigentlich gesucht?“, fragte Mika dann und blickte zu Javert auf. „Oder ist das etwa dein Orksklave, den du da vergessen hattest?“ Er lachte bellend.
    „Werde ich eigentlich noch gebraucht, oder kann ich wieder zurück?“, meldete sich nun der Wachtposten, der sich die ganze Zeit in respektvollem Abstand auf dem Feldweg gehalten hatte. Er war noch ziemlich jung, vielleicht siebzehn oder achtzehn Jahre alt, hatte blonde Haare und ein ziemliches Milchbubigesicht. So ungefähr musste Javert wohl auch aussehen, wenn er sich mal seinen Backenbart abrasierte, was ihm möglicherweise tatsächlich noch blühen konnte, wenn er das verkrustete Blut dort nicht vernünftig herausgewaschen bekam.
    „Danke, es geht schon“, sagte Javert zum jungen Milizionär gewandt. „Es muss mich keiner mit den Füßen zuerst in die Stadt tragen. Aber danke fürs Kommen!“
    „Kein Ding“, sagte der junge Mann und trottete den Feldweg zurück zum Stadttor.
    „Du bist viel hier draußen, hast du gesagt?“, fragte Javert dann wieder an Mika gewandt. Der nickte.
    „Eigentlich fast nur. Ist auch deutlich angenehmer, als in der Stadt herumzugammeln. Die meiste Zeit pendele ich von hier zu Akils Hof und schaue, dass ihm nicht wieder irgendwelche Banditen die Schafe unterm Arsch wegklauen. Oder seine Frau.“ Er lachte kurz auf. „Das große Söldnerkloppen ist ja zum Glück vorbei, seit Lee die meisten seiner Männer mit aufs Festland genommen hat. Da muss der alte Onar sich auf sein Kernland beschränken. Ist alles ruhiger geworden, seitdem. Hätte meinetwegen auch gerne so bleiben können. Ein Ork vor der Stadt, heiliger Rhobar. Das letzte Mal ist echt lange her.“
    „War es das letzte Mal auch ein Sklave?“, erkundigte Javert sich.
    „Oh, nein, nein“, sagte Mika. „Das war noch übler, damals. Ein richtiger Kämpfer, mit Waffe in der Hand und in einer dieser Dornenrüstungen. Sah furchterregend aus und hat noch furchterregender gekämpft. Das war eine knappe Kiste, kann ich dir sagen. Das habe ich nur überlebt, weil mir ein anderer Kerl beiseite gestanden ist. Schade, dass der Typ damals nicht zur Miliz gekommen ist, so einen hätten wir brauchen können …“
    „Hast du denn irgendeine Erklärung dafür, was der Ork in der Höhle gemacht hat? Es sieht fast so aus, als hätte dort jemand seinen Sklaven zurückgelassen. Ist dir irgendetwas Besonderes aufgefallen in den letzten Tagen?“
    Mika schüttelte den Kopf. „Eigentlich alles wie immer. Ich habe jetzt auch nie in der Höhle herumgeschaut, weil ich dachte, das, was sich da einnistet, darf auch gerne da drin bleiben. Besser drinnen als draußen. Aber wenn ich gewusst hätte, dass da wieder ein Ork haust … da hätte ich mich schon längst drum gekümmert. Mit Verstärkung, versteht sich. Mannomann, schon wieder einen Orkangriff überlebt, ein drittes Mal davon brauche ich ja wirklich nicht. Und du jetzt auch! Willkommen im Club, kann ich da nur sagen. War dein erstes Mal, nehme ich mal an?“
    „Ja“, sagte Javert. „Die Mitgliedschaft in diesem Club hätte ich aber auch
    nicht so dringend gebraucht.“
    Mika schnaubte zustimmend und besah sich noch einmal den Ork. Javert schaute lieber weg. Das ganze Orkblut, das zudem noch einen äußerst unangenehmen Geruch nach verrottenden Pflanzen verströmte, schnürte ihm die Kehle zu.
    „Irgendwann muss der Ork jedenfalls in die Höhle gelangt sein“, setzte Javert wieder an. „Aber wenn du den ganzen Tag lang hier bist …“
    „Den ganzen Tag lang ja, aber nicht in der Nacht“, sagte Mika. „Keine Ahnung, was da so abgeht. Nachtschicht haben wir hier draußen nicht. Ist ja auch keiner mehr unterwegs dann, im Normalfall. Wer weiß schon, was da für krumme Dinger gedreht werden. Der ganze Waffenhandel damals mit den Banditen hat ja auch in der Nacht stattgefunden. Bis das mal aufgeflogen war …“
    „Und da legt sich keiner mal auf die Lauer, wenn so etwas im Gange ist? Das mit dem Waffenhändlerring war doch eine große Sache, soweit ich gehört habe.“
    „Ich merke schon, du bist wirklich neu bei uns“, sagte Mika mit einem mitleidigem Blick. „Für sowas haben wir doch keine Leute! Und wenn Wulfgar anfängt, Nachtschichten für draußen anzuordnen, dann läuft uns der Rest auch noch weg. Seit wieder halbwegs regelmäßiger Schiffsverkehr zwischen uns und dem Festland herrscht, ist es doch umso einfacher geworden, sich abzusetzen. Da habe ich schon so viele Glücksritter kommen und gehen gesehen … und mal ehrlich: Ich würde mich hier auch nicht nachts hinstellen und warten, bis ich die Flöhe husten höre. Da können die wegen mir auch das halbe Hafenviertel aus der Stadt schmuggeln, das ist mir doch … hey, alles in Ordnung mit dir?“
    Javert war wieder ins Schwanken geraten und konnte sich nur vor einem Sturz retten, indem er sich, etwas ungelenk, an einem nahestehenden Baum abstützte. In seinen Armen und Beinen kribbelte es. Er blinzelte ein paar Male, um die schwarzen Flecken aus seinem Gesichtsfeld zu vertreiben. Nach kurzer Zeit ging es wieder. Aber ihm war mit einem Mal furchtbar heiß.
    „Mann, du bist noch ganz wackelig auf den Beinen, und da hast du auch allen Grund zu“, sagte Mika. „Mir ging ja auch ganz schön der Stift, als ich den Ork gesehen habe. Pass auf, ich kümmere mich hier um den Rest, und du gehst jetzt zurück in die Stadt und auf direktem Weg zu Agon, der flickt dich schon wieder zusammen mit seinen Salben und Tinkturen. Und wenn du ganz lieb fragst, dann spricht er vielleicht sogar einen kleinen Heilzauber für dich. Hast du Agon schon kennengelernt?“
    „Ja und nein“, sagte Javert, der sich möglichst beiläufig am Baum anlehnte. „Ich habe noch nicht viel mit ihm gesprochen. Aber ich weiß, wer das ist. Der ist der Alchemist, oder?“
    Mika nickte. „So in etwa. Eigentlich ist er ja ehemaliger Novize aus dem Kloster. Von denen haben wir ja noch einen, sind damals ja irgendwie zusammen aus dem Laden rausgeflogen. Babo heißt der andere, aber den kenne ich nicht so gut, das ist auch eher so ruhiger Vertreter, glaube ich. Aber Agon ist ein helles Köpfchen, und vor allem ein absolutes Ass mit Kräutern und dem ganzen Gedöns. Wenn du mal irgendein Zipperlein hast, kann der dir auf jeden Fall helfen. Hat seine kleine Stube direkt neben Mortis. Das weißt du aber, wo das ist, oder?“
    „Ja sicher“, sagte Javert fast schon trotzig. „Bei Mortis war ich heute erst. Ich habe die Rüstung gerade neu bekommen. Und jetzt ist sie schon eingesaut.“
    Mika lachte. „Gewöhn dich dran! Und irgendwann muss man das Ding doch mal richtig einweihen, oder? Besser früher als später, jetzt hast du es wenigstens hinter dir. Und wenn die erstmal ganz voll mit Dreck ist, dann brauchst du die auch gar nicht mehr aufzuhängen, sondern kannst sie einfach in die Ecke stellen. Hat alles seine Vor- und Nachteile.“
    „Ja, das ist wohl so“, sagte Javert, der sich mittlerweile wirklich ziemlich schwach auf den Beinen und vor allem sehr ausgelaugt fühlte. „Dann schaue ich direkt mal bei Agon vorbei. Und danke nochmal für die Hilfe, du hast was gut bei mir.“
    „Kein Problem, dafür bin ich ja da“, sagte Mika. „Aber beim nächsten Mal vielleicht lieber nur ein oder zwei Blutfliegen mitbringen statt direkt einen ganzen Ork, einverstanden?“
    „Einverstanden.“

    „Ach du Scheiße, wie siehst du denn aus?“
    Kaum hatte Javert die Kaserne, diesen großen, kastenartigen Ziegelbau, betreten, war ihm auch schon Peck über den Weg gelaufen, der gerade aus Wulfgars – neuerdings Pablos – Büro gekommen war.
    „Die Uniform ist ein bisschen zu groß, ich weiß, aber von der Länge her passt sie doch genau richtig, findest du etwa nicht?“
    Javert setzte das unbeeindruckteste Lächeln auf, das er sich in diesem Moment abringen konnte, aber das erschöpfte Kratzen in seiner Stimme nahm seinem Witz etwas an Lässigkeit.
    „Wenn es nur die Uniform wäre“, sagte Peck, offensichtlich unsicher, wie er auf Javerts Witzelei reagieren sollte. „Was ist passiert?“
    „Ich bin über einen Ork gestolpert“, erzählte Javert. „Draußen vor der Stadt, in einer Höhle. Ich muss ihn wohl beim Schlafen überrascht haben. Und dann hat er mich überrascht. Mika hat mich gerettet. Sonst wäre ich wohl nicht auf meinen eigenen zwei Beinen zurück in die Kaserne gekommen.“
    „Orks!“, rief Peck aus. Die Züge im rundlichen Gesicht des Mannes mit dem ewigen Dreitagebart verhärteten sich merklich. „Sind sie etwa immer noch vor der Stadt?“
    „Es war ja nur einer“, bemühte Javert sich, sein Gegenüber zu beruhigen. „Und ja, der liegt vermutlich immer noch vor der Stadt, aber er ist tot. Mika hat kurzen Prozess mit ihm gemacht. Er war allerdings auch schon ziemlich abgemagert. Der Ork, meine ich, nicht Mika. Ich habe die Vermutung, dass es sich um einen Orkslaven gehandelt hat. Er trug Fesseln an den Armen und Beinen, nur waren die leider lose, wie aufgeschnitten oder aufgeschlossen. Eine der Ketten hat mich auch direkt im Gesicht erwischt, aber ansonsten bin ich eigentlich heile aus der Sache herausgekommen.“
    „Was du so heile nennst“, meinte Peck. Die Nachricht, dass der Ork nicht einer ganzen Streitmacht angehörte, die bald die Stadt belagern würde, entspannte ihn offenbar ein wenig. „Aber was hast du denn alleine in der Höhle gemacht? Hol dir doch einen von uns dazu, wenn du auf Achse gehst. Wir können ja nichtmal Nein sagen, wenn du fragst, streng genommen.“
    „Ich hatte heute Vormittag nach dir und Ruga gefragt, aber es hieß, du seist im Hafen unterwegs und Ruga auf irgendeinem Hof. Berengars Hof, hat Pablo glaube ich gesagt.“
    „Bengars Hof“, korrigierte Peck. „Ja, das kann sein, auch wenn ich mich frage, was wir als Miliz da eigentlich immer zu suchen haben, außerhalb der Stadt und so. Na ja, anderes Thema.“
    „Was hast du denn im Hafenviertel gemacht?“, fragte Javert.
    „Ach, Ermittlungen“, sagte Peck und winkte ab. „Aber nicht in deiner Sache. Hör mal, ich will dir ja nicht zu nahe treten, aber mit deinen Verletzungen solltest du lieber mal zu Agon gehen.“
    „Keine Sorge, genau deshalb bin ich hier. Ich hatte nicht vor, mich in dem Zustand in mein Büro zu setzen und noch ein paar Karteikarten vollzuklecksen. Danke übrigens für deinen Bericht, der war gut. Noch besser wäre gewesen, ich wäre deinem Ansatz gefolgt und hätte nach der Herkunft der Schriftrollen gesucht, statt mich in einer Höhle herumzurollen.“
    „Da hat doch gerade irgendjemand meinen Namen gesagt.“
    Peck und Javert blickten überrascht zum Ende des Flurs, wo ein junger Mann mit hellbraunen, modisch gekämmten Haaren seinen Kopf aus einer offenen Tür herausstreckte.
    „Das ist dann wohl dein Termin“, sagte Peck. „Gute Besserung! Wir sprechen dann spätestens morgen, wenn du bis dahin keine weitere Aufgabe für mich hast.“
    „Ja, bis morgen“, sagte Javert. „Und danke.“
    Peck ging, die Hand zum Abschiedsgruß erhoben, seiner Wege, und Javert ging auf den jungen Mann zu, den er als Agon wiedererkannt hatte.
    „Hallo“, grüßte Javert ihn. „Ich müsste dann mal ein wenig zusammengeflickt werden, wie du vielleicht siehst.“
    „Na und ob ich das sehe. Komm rein. Dein Name war Javert, oder? Wir hatten uns bei der Sache im Lagerhaus gesehen, meine ich.“
    Javert folgte Agon in seine kleine Stube. Sie war fast genau so, wie man sich die Stube eines Alchemisten vorstellte, mit dem Unterschied, dass hier alles sehr aufgeräumt aussah. Wenn Javert genauer darüber nachdachte, sah das hier also eigentlich nur sehr wenig so aus, wie man sich die Stube eines Alchemisten vorstellte. Hier blubberte, spritzte und köchelte nichts, auch die Luft war klar und frei von Rauch. Stattdessen gab es einen Alchemietisch, der wie gerade neu zusammengestellt in der Mitte des Raumes stand und von zwei großen, penibel polierten Kesseln flankiert wurde. An der Wand waren lange Regale in drei Reihen angebracht, auf denen ordentlich sortiert Gläser, Tiegel, Töpfe und Fläschchen standen, die Tinkturen, Kräuter und sonstige Ingredienzien beinhalten mochten. Längs an der Wand, direkt gegenüber zur Eingangstür, war eine Pritsche von der Wand heruntergeklappt, was Javert vermuten ließ, dass es sich bei diesem Raum einst um eine kleine Gewahrsams- oder Verhörzelle gehandelt haben musste.
    „Lass die Tür ruhig offen“, sagte Agon und bat Javert mit einer kleinen Geste, auf der Pritsche Platz zu nehmen. Der junge Mann trug keine Milizuniform, sondern ein schlichtes Hemd aus rotem Stoff.
    „Ich habe das Gespräch vorhin ein bisschen mithören können“, sagte er, nachdem Javert sich gesetzt hatte, der nun Blickrichtung auf ein schmales Bücherregal voller verstaubter Folianten hatte. „Du hast dich mit einem Ork gekloppt? Ja schämst du dich denn gar nicht, sowas während der Friedensverhandlungen zu machen?“ Agon verzog das Gesicht zu einem spöttischen Grinsen.
    „Eigentlich hat er ja eher mich gekloppt“, bekundete Javert wahrheitsgemäß. „Weiß ich nicht, ob das für einen diplomatischen Zwischenfall auf höchster Ebene reicht.“
    „Vermutlich eher nicht. Glück gehabt. Wo hat er dich denn überall erwischt?“
    „Im Gesicht, also an der Schläfe, einmal hat er mir auch in die Seite gehauen, aber da geht’s eigentlich. Ich bin aber mehrmals auf Steinboden aufgekommen, da habe ich mir einiges aufgerissen, vor allem an der rechten Seite. Am Arm, am Bein. Die Hose hat gehalten, aber es hat schon durchgeblutet. An der Hand ist auch etwas. Von allem ein bisschen.“
    „Steinboden hast du gesagt … auch Waldboden?“
    „Ja, auch. Das war alles direkt an einem Höhlenausgang, ich musste auch einmal durch Dornenbüsche, da habe ich auch überall so ein bisschen etwas abbekommen, glaube ich.“
    „Aber die Knochen sind alle noch ganz?“
    „Scheint so“, meinte Javert.
    „Gut“, sagte Agon. „Dann müssen wir das ganz große Besteck ja nicht auspacken. Zieh dir mal deine Uniform und am besten auch direkt die Hose aus. Ich werde deine Wunden vorsorglich mit ein paar Tinkturen reinigen, damit du keinen Wundstarrkrampf bekommst. Wäre ja schade, wenn du einen Orkangriff überlebst, aber dich dann der Waldboden dahinrafft.“
    Javert tat, wie ihm geheißen, und bewunderte dabei, mit welch offensivem Selbstvertrauen der junge Mann agierte. So wie er sprach, konnte man glatt glauben, dass er diesen Beruf schon jahrzehntelang ausübte. Da hatte Javert schon so manchen alteingesessenen Heiler in der Hauptstadt erlebt, der sein Handwerk deutlich schlechter beherrschte oder zumindest schlechter verkaufte. Aber noch hatte er Agon ja nicht in Aktion gesehen.
    „Ja, ist schon ganz ordentlich“, meinte Agon, nachdem er eines der Fläschchen aus dem Regal gezogen und sich Javerts Wunden am Bein und am Arm zugewandt hatte. „Sieht mir eher nach oberflächlicheren Wunden aus, aber dafür relativ groß. Das sollten wir nachher noch ein bisschen verbinden, damit kein zusätzlicher Dreck reinkommt. Aber erst einmal … Agons Wundentinktur!“ Er öffnete den Korken der Flasche und tränkte dann ein weißes Stofftuch mit der blassroten Flüssigkeit. Javert hatte im ersten Moment geglaubt, der junge Heiler habe Wundertinktur gesagt, was zu seinem allgemeinen Gebaren auch ganz gut gepasst hätte.
    „Brennt jetzt wahrscheinlich ein wenig“, sagte Agon eine Sekunde zu spät, denn Javert waren die Gesichtszüge bereits entglitten, als Agon ihm das Tuch auf die aufgeschürften Stellen am Bein aufgelegt hatte. Während sich der Heiler von dort langsam nach oben arbeitete, fing Javert allein der Ablenkung wegen ein Gespräch mit ihm an.
    „Wo hast du das eigentlich gelernt?“, fragte er. „Ich hätte in der Miliz nicht unbedingt einen ausgebildeten Alchemisten und Heiler erwartet.“
    Agon hielt kurz inne und bedachte Javert erneut mit seinem charakteristischen, spöttischen Lächeln. „Du willst mir doch nicht erzählen, dass du noch nichts über meine Vergangenheit gehört hast“, sagte er. Eine Haarsträhne fiel ihm über die Augen, als er mit der Reinigung von Javerts Wunden fortfuhr. „Ich kann es auch kurz machen und sagen: Alle Geschichten, die du über mich gehört hast, sind gleichermaßen wahr und gelogen. Such dir einfach die aus, die dir am besten gefällt.“
    „Erwischt“, sagte Javert schmunzelnd. „Aber bisher habe ich lediglich gehört, dass du Novize im Kloster warst.“
    „Korrekt“, sagte Agon. Er wandte sich kurz von Javert ab, um einige Lagen Verbandmittel aus einer Schublade an einer kleinen Kommode direkt neben dem Bücherschrank zu greifen.
    „Und wie bist du dann zur Miliz gekommen, wenn ich fragen darf?“, traute sich Javert noch ein Stück weiter.
    Agon sagte zunächst nichts, während er Javerts rechtes Bein am Oberschenkel verband. Erst, als der Verband saß, antwortete er.
    „Das hat man dir wirklich noch nicht erzählt?“ Agon griff nun wieder nach dem weißen Tuch und tränkte es erneut in der Tinktur. Javert konnte nun zum ersten Mal das Etikett lesen, wobei ihm die Aufschrift Seraph./Vel. nicht viel sagte.
    „Nein, wirklich nicht“, beteuerte Javert. „Du musst es mir ja auch nicht erzählen. Aber wenn du sagst, dass eh schon viele Geschichten darüber kursieren, will ich lieber jemanden dazu befragen, der sich auch wirklich auskennt.“
    Agon grinste wieder, diesmal aber nicht spöttisch, sondern zum ersten Mal in diesem Gespräch irgendwie aufrichtig.
    „Dann ist es gut, dass du mich gefragt hast und nicht Babo. Der hätte dir nämlich seine Version der Geschichte erzählt, und wer weiß, wie die gelautet hätte.“
    „Babo?“, fragte Javert mit etwas zitteriger Stimme, weil Agon gerade damit begonnen hatte, die deutlich schlimmere Wunde an seinem Arm abzutupfen.
    „Babo“, bestätigte Agon. „Der zweite hier bei der Miliz, der mal Novize im Kloster der Feuermagier war. Und wie es der Zufall so will, haben wir beide gleichzeitig hier angefangen. Wobei, das stimmt nicht, ich habe ein paar Tage früher hier angefangen. Aber rausgeflogen aus dem Kloster sind wir beide gleichzeitig.“
    „Ich dachte immer, das sei ein Bund fürs Leben, wenn man ins Kloster eintritt.“
    Agon lachte leise. „Ja, das dachte ich auch. Aber die Bande sind schneller gekappt als man meint, wenn der hohe Rat das so will. Und bevor du fragst oder herumspekulierst: So schlimm war das nicht, was ich mir geleistet habe. Ich habe keinem Magier widersprochen, keine Frau mit ins Kloster gebracht, bei Innos, ich habe nicht einmal Trollkirschensud in den Wein gemischt, auch wenn ich das zu gerne mal gesehen hätte, wie sich die versammelte Mannschaft den Rand vom Arsch scheißt. Nein, ich habe einfach nur einem anderen Novizen ordentlich eine geklebt, das war alles.“
    „Babo?“, fragte Javert.
    „Babo“, bestätigte Agon. „Und ja, ich gebe es auch direkt zu, bevor du mich hier noch weiter überführst: Ich habe angefangen.“
    Agon griff nach einem weiteren Streifen Verbandmaterial um nun auch die Wunde an Javerts Arm zu verbinden. Je länger Javert hier saß, desto mehr spürte er, wie weh ihm eigentlich sein ganzer Körper tat.
    „Da muss es aber doch eine Vorgeschichte gegeben haben“, sagte Javert. „Jemand, der berufsmäßig Leute verarztet, vermöbelt sie doch nicht einfach so. Oder hast du damals an Babo üben wollen, wie man jemanden richtig verbindet?“
    „Ha, nicht schlecht!“, lachte Agon. „Ja, natürlich gab es dazu eine Vorgeschichte, und wegen der sehe ich mich auch im Recht. Ganz unabhängig davon, wie der hohe Rat das fand.“ Er griff nach einer Schere, um den Verbandstreifen auf die richtige Länge zu bringen. Javert wurde es etwas unwohl dabei, wie Agon so nahe an seiner Haut herumschnitt. „Ich komme aus einer Familie, in der Ehre noch etwas zählt. Und wer meine Ehre mit haltlosen Unterstellungen beschmutzen will, der muss auch die Konsequenzen dafür tragen.“
    Der Verband am Arm war nun angelegt, etwas zu eng für Javerts Geschmack, und Agon griff wieder zu Tinktur und Tuch. Jetzt war das Gesicht dran.
    „Babo hat es für eine gute Idee gehalten, mich bei den Magiern anzuschwärzen und zu behaupten … den Kopf bitte einmal so zur Seite – ja, perfekt … zu behaupten, ich hätte ihm eine seiner Zeichnungen gestohlen. Wahrscheinlich hätte mich der hohe Rat allein deswegen schon rausgeschmissen, die haben ja nur nach Anlässen dafür gesucht, weil denen offenbar nicht gepasst hat, dass ich mich von den Magiern nicht so herumschubsen lassen wollte wie die ganzen anderen demutsbesoffenen armen Schlucker unter den Novizen. Da war es für mich also gar kein großer Verlust, direkt klarzustellen, dass man mich nicht ungefragt einen Dieb nennt. Mein Gott, kommt da Dreck raus, hast du beim Fallen mit dem Gesicht gebremst?“
    Javert spürte mehr als er sah, wie Agon ihm die Wunden und das Gesicht säuberte, von der Schläfe herunter bis hin zur Wange und zum Kinn. Die kleinen Blutverklumpungen in seinem Backenbart wurden durch die einziehende Feuchtigkeit der Tinktur gefühlt nur noch größer.
    „Und die Zeichnung hast du natürlich nicht gestohlen“, stellte Javert mehr fest als er es fragte.
    Agon schnaubte belustigt. „Allenfalls geliehen. Zeichnen kann Babo ja, das muss man ihm lassen.“
    „Und Babo ist dann wegen der selben Sache aus dem Kloster entlassen worden? Wie hat man das denn begründet? Hat er zurückgeschlagen?“
    Die Wege des Herrn sind unergründlich“, rezitierte Agon spöttelnd. „Zurückschlagen hätte er sich ja niemals getraut. Aber: Mitgehangen, mitgefangen; so lief das im Kloster. Wenn du irgendwie auffällig geworden bist, war es das sehr schnell für dich, egal ob du daran nun Schuld hattest oder nicht. Zugegeben: An Ungerechtigkeit kaum zu überbieten. Als Strafe für die Verleumdung aber fast schon angemessen.“
    Javert kommentierte das nicht und konzentrierte sich stattdessen darauf, nicht zusammenzuzucken, während Agon einen kleinen Schnitt an der Augenbraue behandelte, der ihm vorher noch gar nicht so aufgefallen war.
    „Du sprichst über all das sehr entspannt“, sagte Javert dann nach einer Weile. „Ich habe jedenfalls nicht den Eindruck, dass du besonders traurig darüber bist, dass du nicht mehr im Kloster bist.“
    Agon schnaubte wieder und schüttelte sachte den Kopf. „Es war einfach nicht meine Welt und von Anfang an auch nicht meine eigene Idee gewesen. Nimm eine reiche Familie und einen allzu frommen Onkel, und plötzlich glaubt man zu wissen, was das Richtige für dich ist. Für mich war es allen in allem also ein Glücksfall, das Ganze. Im Prinzip müsste ich mich bei Babo ja sogar bedanken. Aber das hast du nicht von mir gehört.“ Er grinste wieder. „Babo tat mir bei der Sache ja dann doch sogar fast schon leid. Für ihn war das Kloster was, er wäre gerne geblieben und hätte den Kräutergarten übernommen, den ich bis dahin geführt hatte. Er kennt sich auch ein bisschen mit Kräutern aus – aber eben nicht so gut wie ich. Letztlich war ich es dann aber, der Babo mit zur Miliz gezogen hat, wir wussten ja beide erst nicht, was wir machen sollen. Ob er jetzt aber wirklich ein toller Fang für die Miliz war, das lasse ich mal andere beurteilen. Was ist denn eigentlich mit deiner Hand?“
    „Meine Hand?“, fragte Javert, der gerade ein wenig in den Erzählungen Agons versunken war, verwirrt. „Ach so, ja.“ Er zeigte seine rechte Handfläche vor, die durch einen der Stürze in der Höhle ordentlich in Mitleidenschaft gezogen worden war.
    „Ja, die könnte auch was vertragen“, entschied Agon. „Also gleiches Spielchen wie bei den anderen Stellen auch, und dann habe ich für den Nachmittag auch schon wieder was zu tun, Fläschchen auffüllen und so weiter. Brauchst du eigentlich sonst noch was? Etwas gegen die Schmerzen, oder vielleicht etwas zum besser Einschlafen?“
    „Ich denke nicht“, sagte Javert, während er zusah, wie seine Hand bandagiert wurde. Kaum ein paar Tage auf Khorinis und schon sah er aus wie eine Mumie. Und fühlte sich auch ein bisschen so.
    „Wäre aber kein Problem“, fuhr Agon fort. „Da habe ich wirklich reichlich an Mittelchen, auch wenn der Tag einfach mal ein bisschen zu hart war oder so.“
    „Das geht schon alles“, winkte Javert ab. „Frag mal den Ork, wie hart der Tag für ihn war. Da kann ich mich eigentlich nicht beschweren.“
    Agon grinste wieder sein aufrichtiges Grinsen. „Wohl wahr“, sagte er. „Dann wären wir fertig. Grundsätzlich sind die Wunden nicht so schlimm, das ist alles mehr zur Vorsicht. Wenn du doch Schüttelfrost bekommen solltest, dann … na ja, hoff’ einfach mal darauf, dass du nicht Schüttelfrost bekommst. Aber ich bin da guter Dinge. Zwei, drei Tage, dann kannst du den Verband am Bein bestimmt schon abnehmen. Ein paar weitere Tage, dann den am Arm, aber da lässt du mich dann nochmal drübergucken. Beim Gesichtwaschen vorsichtig sein, dass sich die kleine Verpflasterung an der Schläfe nicht ablöst. Ich mache dir das bei Bedarf neu, aber auch nur einmal. Und an der Hand hältst du es je nachdem, wie du meinst, da ist es glaube ich wirklich nicht so schlimm, ist halt nur eine etwas ungünstige Stelle.“
    Javert nickte. „Alles klar. Vielen Dank.“
    „Da doch nicht für“, sagte Agon und schenkte Javert zum Abschied sein schönstes Grinsen.

    Javert ächzte wie ein alter Mann und fühlte sich auch so, als er in der frühen Abenddämmerung hinter seinem Steinhäuschen mit einem Bein im Badezuber lag und die ein oder andere Verrenkung anstellte, um sich rund um seine Bandagen zu säubern. Seinen Backenbart hatte er retten können, ohne ihn bis auf die Grundmauern herunter rasieren zu müssen. Das war immerhin ein kleiner Erfolg an diesem Tag, der sonst nur Mist bereitgehalten hatte.
    Nachdem Agon ihn verarztet hatte, hatte Javert tatsächlich noch versucht, sich seiner Aufgabe auf Papier zu widmen, aber seine Gedanken flirrten wild hin und her, er war unruhig und ständig von allerlei Wehwehchen abgelenkt, die ihm der Orksklave, zu einem guten Teil vor allem die Flucht vor selbigem, beigebracht hatte. Deshalb hatte er auch den Plan verworfen, direkt wieder zur Höhle zurückzukehren, diesmal mit Fackeln im Gepäck, um nach weiteren Spuren zu suchen oder noch einmal mit Mika über den Ork Rücksprache zu halten. Die Herkunft seiner Fesseln, festgestellt durch einen ortsansässigen Schmied, hätte möglicherweise einen weiteren Ermittlungsansatz geboten, aber das musste bis zum nächsten Tag warten. Um die Beweise zu sichern, hatte er allerdings den zufällig vorbeikommenden Boltan gebeten, Mika aufzusuchen und ihn darum zu bitten, die Fesseln, soweit es denn möglich wäre, in die Kaserne zu verbringen. Javert hatte dann noch darauf gewartet, ob vielleicht Peck oder Ruga vorbeikamen, aber nachdem weder der eine noch der andere in der Kaserne aufgetaucht war und Javert mittlerweile solche Kopfschmerzen bekommen hatte, dass er damit liebäugelte, sich doch noch von Agon ein Mittelchen geben zu lassen, hatte er seinen Arbeitstag für beendet erklärt. Es half ja nichts, und er konnte ja sowieso nicht erwarten, alle Probleme auf einmal innerhalb von ein paar Tagen lösen zu können.
    Indes: In Javerts Kopf gingen die Ermittlungen weiter, auch beim Waschen. Die Begegnung mit dem Orksklaven ließ ihn einfach nicht mehr los, und dabei ging es weniger um den kurzen Kampf, auch nicht so viel darum, ob der Sklave vielleicht für Fedolar als Teil eines weiteren morbiden sogenannten Kunstwerks vorgehalten und dann schlicht vergessen worden war. Jetzt gerade stellte sich Javert vor allem eine Frage: Wie war es überhaupt möglich, einen Ork zu versklaven? Aus Erzählungen kannte Javert nur das Bild des stolzen, kämpferischen Orks, der erst aufgab, wenn er tot war, vielleicht noch nicht einmal dann. Die orkische Rasse war für ihren Freiheitsdrang berühmt wie berüchtigt, und eher würden sie alle miteinander im Kampfe fallen als auch nur einen von ihnen in Ketten legen zu lassen. Selbst in seinem abgemagerten, kränklichen Zustand hatte der Ork heute sofort nach dem Aufwachen den Kampf aufgenommen. Aber warum hatte er sich dann überhaupt jemals fesseln lassen?
    Die Antwort fand Javert in einer anderen gedanklichen Karteischublade, während er sich mit einer langen Bürste notdürftig den Walddreck von der Haut schrubbte. Kontrolle. Schlaf. Vergessen. Freundlich stimmen. Die verbotenen Zauber, die direkt in den Geist des Menschen eingriffen und vielleicht auch bei Orks wirkten. Nur so ließ sich erklären, dass sich ein Ork in Ketten legen ließ. Nur so war es möglich, dass man, wie einst in der Minenkolonie, einen Ork dazu bringen konnte, für seine menschlichen Peiniger schwere Minenwerkzeuge und Anlagen zur Erzverarbeitung zu bedienen. Den orkischen Kampfes- und Freiheitsgeist konnte man nur zähmen, indem man ihn ausschaltete. Das musste es sein.
    Mal ganz abgesehen davon, dass es die Orks ja sowieso nicht anders verdient haben.
    Javert versuchte, den Gedanken ziehen zu lassen. Kein denkendes Wesen hatte es verdient, in eben diesem Denken manipuliert zu werden. Aus gutem Grund vertrat er seit Jahren die eiserne These, dass auch zu Ermittlungszwecken weder Kontrollzauber noch andere Beeinflussungsmagie eingesetzt werden durften.
    Aber manchmal wäre das schon nützlich gewesen, oder? Wen du damit vielleicht sogar hättest retten können. Da hast du dich ja fast schon mitschuldig gemacht, diese Chance nicht ergriffen zu haben. Und genau das willst du doch eigentlich vermeiden, oder? Dich mitschuldig zu machen.
    Javert war kein Magier, und er würde es in diesem Leben auch nicht mehr werden. Allein beim Gedanken daran, jemanden mit einem Feuerball bis auf die Knochen zu verbrennen, wuchs ein Kloß in seinem Hals heran.
    Dafür lässt du das ja andere Leute machen. Und die anderen Zauber tun ja gar nicht weh. Selbst die härteste Pyrokinese-Folter kann per Vergessenszauber aus der Erinnerung des Gefolterten gelöscht werden. Am Ende haben da ja alle etwas von, oder etwa nicht?
    Javert schüttelte den Kopf. Er fühlte sich ins Für und Wider der Kantinendiskussionen beim königlichen Ermittlungsdienst zurückversetzt, in denen es an starken Meinungen selten mangelte. Auch und gerade über den richtigen Umgang mit den Orks.
    Wo du immer so tust, als seien die Friedensverhandlungen der einzig richtige und vernünftige Weg. Weil das genau das ist, was man am königlichen Hof gerne hört. Dabei hasst du die Orks doch bis aufs Blut, wenn du ehrlich bist. Du willst dir doch nicht selber ausreden, dass diese Rasse, die so viel Unheil über den Kontinent gebracht hat, nichts weniger als die Auslöschung verdient?
    Javert fuhr sich mit einem Lappen lauwarmen Wassers über die Stirn, um sich in das Hier und Jetzt zurückzuholen. Er schaute in den Sonnenuntergang, spürte die letzten Sonnenstrahlen, aber er war trotzdem nicht ganz da, nicht ganz bei sich. Es war, als hatte sich die Realität ein kleines Stück verschoben und als wäre er infolgedessen zum Rande hin herausgerutscht.
    „Lass mich doch in Ruhe“, murmelte er in das Geplätscher des Badewassers hinein, während er sein Bein aus dem Zuber herauszog.
    Ich mache das nur, um dich zu überprüfen. Damit du deine Schwachstellen siehst, bevor es zu spät ist. Damit du lernst, dich zu beherrschen. Das ist dir doch auch wichtig, oder? Und da wirst du dich mit deinem Orkhass auseinandersetzen müssen, den du so lange verdrängt hast. Sonst nimmt er noch Überhand.
    „Gar nichts nimmt hier Überhand“, sagte Javert, der das bereitgelegte Handtuch von einem improvisierten Haken an der Hütte angelte und begann, sich energisch trockenzureiben.
    Dein Vater ist im Orkkrieg gefallen. Dein Großvater auch. Sein Hals wurde ihm von einer Orkaxt fast ganz durchtrennt. Die Axt hängt noch heute bei deiner alten Mutter in Silden im Keller, als Mahnmal für die Grausamkeit und Brutalität der Orks. Belüg dich doch nicht selbst, natürlich hast du Zorn auf diese ganze Rasse.
    Javert rieb sich sein Gesicht und seine Haare trocken; in seiner rechten Gesichtshälfte ziepte es dabei schmerzhaft, wenn er zu nahe an seine Wunden geriet, aber das machte ihm gerade gar nicht aus.
    Am liebsten hättest du den Ork in der Höhle heute doch büßen lassen. Hättest ihn am liebsten selbst von hinten mit deinem Degen durchbohrt. Wofür hast du den Degen denn sonst gekauft, hast du dich das mal gefragt? Der Impuls war da, du weißt es genau. Du hättest ihn am liebsten von Kopf bis Fuß verstümmelt. Du hattest nur nicht die Gelegenheit dazu. Aber wenn du sie bekommen hättest, wenn du in Zukunft auch nur ein einziges Mal die Gelegenheit bekommst, so richtig Gewalt auszuüben, dann wirst du dich nicht halten können. Dann wird es knallen. Du bist eine Gefahr, das weißt du, du …
    „Das stimmt nicht!“, rief Javert von seiner Waschstelle aus in den Abendhimmel, sodass es bis zum Hafen herunter schallte.
    „Halt doch die Schnauze da drüben!“, schallte es aus dem Hafen zurück.
    Javert hängte sein Handtuch wieder an den Haken, zog die bereitgelegte Unterwäsche an, betrat sein Steinhäuschen und legte sich sofort ins Bett. In dieser Nacht schlief er, wenn es hochkam, zwei Stunden, und die nicht am Stück.

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    III.


    Javert war gerade in die Phase übergetreten, in der er die Müdigkeit nicht mehr als Müdigkeit spürte, sondern als körperliche Schwäche gepaart mit Konzentrationsschwierigkeiten, als sein Blick auf die graue Mappe fiel, die Pablo ihm am Vortag übergeben hatte. Javert hatte sie gestern achtlos in seinem Büro in einer offenstehenden Schublade zurückgelassen, bevor er sich auf seinen folgenreichen Erkundungsgang begeben hatte. Er stand auf, lehnte sich, des Sitzens überdrüssig, mit dem Rücken an die kalte Ziegelwand und öffnete die Mappe.
    Agon hatte Recht behalten. Zeichnen konnte Babo. Javert war geradezu beeindruckt davon, mit welchem Detailreichtum der ehemalige Novize die Gesichter der Verstorbenen – der Ermordeten – nachgezeichnet hatte. Dabei hatte er offenbar so gut es ging versucht, den Normalzustand der teils verstümmelten Gesichter der Toten zeichnerisch wiederherzustellen, wobei Javert den Zeichnungen ansah, dass insbesondere die zwei Frauengesichter eine gewisse Idealisierung durch Babo erfahren haben mussten. Vorzeigbar waren die Bilder aber in jedem Fall.
    Schritte auf dem Flur lenkten Javerts Blick zur Tür.
    „Guten Morgen, Boltan!“, sagte Javert und brachte damit den vorbeieilenden Milizionär zum Stehen. „Guten Morgen“, erwiderte der den Gruß.
    „Hat das gestern mit den Fesseln noch geklappt?“, fragte Javert. „Ich selbst war ja leider etwas … unpässlich.
    „Fesseln?“, fragte Boltan verwirrt. „Welche Fesseln?“
    „Die Orkfesseln. Von dem Ork, der mich gestern vor der Stadt angegriffen hat. Wir hatten ja kurz darüber gesprochen, dass seine Fesseln als potentielle Beweismittel gesichert werden sollen.“
    „Ach so, diese Fesseln meinst du!“
    „Ja, die Orkfesseln. Wurden sie gesichert?“
    Boltans Herumgedruckse wurde nun unübersehbar. „Das mit den Fesseln … das hat nicht mehr so richtig geklappt, weil …“
    „Weil wir ganz sicher keinen Ork in die Stadt verfrachten lassen“, ertönte eine weitere Stimme vom Flur. Eine Sekunde darauf trat Pablo in Javerts Blickfeld.
    „Nichts für ungut, Javert, aber wir können hier keinen orkischen Leichnam über den Marktplatz tragen lassen, allein schon aus Gründen des Seuchenschutzes. Ganz zu schweigen davon, was hier los ist, wenn die Leute spitz kriegen, dass ein Ork vor der Stadt gesichtet wurde. Das ist nichts, was man hier an die große Glocke hängen sollte. Die Stimmung ist wegen der Friedensverhandlungen auf dem Festland eh schon angespannt. Die Leute hier haben noch lange nicht vergessen, was die Orks ihnen angetan haben. Das ist hier schon ein Stich ins Blutfliegennest, wenn man das Wort Ork überhaupt nur ausspricht.“
    „Es wäre ja gar nicht um den Ork selbst gegangen, sondern nur um seine Fesseln“, sagte Javert, der aus den Augenwinkeln beobachtete, wie Boltan sich bedröppelt über den Flur davonstahl. „Ich weiß nicht, wie viel dir davon erzählt worden ist. Aber der Ork, der mich angegriffen hat, war offensichtlich ein Orksklave, den irgendjemand dort in der Höhle zurückgelassen hat. Und dieser jemand steht in großer Wahrscheinlichkeit in Verbindung mit dem Fall im Lagerhaus im Hafenviertel. Das Ganze fällt in meinen Zuständigkeitsbereich, und die Fesseln sind potentielle Beweismittel.“
    „Geht es in deinem Zuständigkeitsbereich nicht eigentlich um Menschenhandel?“, fragte Pablo. In seiner Milizuniform, die er am heutigen sommerlichen Tag mit kurzer Hose trug, sah er gerade ein bisschen aus wie ein aufgebrachter Bademeister. „Davon mal abgesehen höre ich selber von der Sache gerade zum ersten Mal. Du bist vom Ork angegriffen worden, hast du gesagt?“
    „Ja, die Dinger hier trage ich nicht zur Mode“, sagte Javert und wies auf seine Verbände. „Mika hat mich gerettet.“
    Pablo nickte anerkennend. „Auf Mika ist Verlass. Ich kann mich noch an Zeiten erinnern, da ist er als Blümchenpflücker verlacht worden, dabei ist an ihm ein waschechter Waldläufer verloren gegangen. Von dem würde ich mich nachts mit verbundenen Augen durch den Wald führen lassen und hätte dabei keine Angst, dass mir etwas passiert.“
    „Was hat man denn mit dem Ork gemacht, wenn er nicht in die Stadt getragen wurde?“, fragte Javert weiter. „Liegt er immer noch vor der Höhle?“
    „Wohl kaum“, sagte Pablo. „Das letzte Mal ist schon sehr lange her, aber früher hat man Orks, die vor der Stadt erlegt wurden, einfach mitsamt ihren Waffen verbrannt. Weiß ich nicht, ob die Fesseln das überlebt haben. Das wäre natürlich eine schöne Scheiße, wenn die zu Klump geschmolzen wären. Wenn ich rechtzeitig von der Sache gewusst hätte, hätte ich da natürlich Anweisungen zu gegeben. Sprich am besten mal mit den Torwachen oder mit Mika, vielleicht ist da ja noch etwas zu retten. Ich drücke dir die Daumen. Mich beunruhigt das nämlich ehrlich gesagt auch ziemlich, dass in unmittelbarer Nähe zum Stadttor ein Ork gehaust hat, Sklave hin oder her.“
    „Na gut“, sagte Javert. „Wie geht es Wulfgar?“
    „Immer noch krank“, sagte Pablo und zuckte mit den Schultern. „Ich hoffe mittlerweile auch, dass er bald wieder kommt. Hauptmann sein ist ja doch anstrengender als gedacht.“ Er lachte kurz auf. „Aber ich will nicht klagen, immerhin tauchen in meinem Büro keine Orks auf. Gute Besserung dir noch, und viel Erfolg bei den Ermittlungen. Wenn noch irgendwas ist oder du irgendwas brauchst, dann melde dich einfach.“
    „Alles klar, danke“, sagte Javert und ließ Pablo dann ziehen.
    Nachdem Javert alle die aus seiner Sicht für seine heutigen Ermittlungen erforderlichen Sachen zusammengerafft hatte – die Milizuniform gehörte nicht dazu –, trat er über den Haupteingang in den Kasernenhof und wurde dabei fast von Ruga überrannt. „Was ist denn mit dir passiert?“, entfuhr es Javert, als er sich den Milizionär besah. Ruga war am Kopf großflächig bandagiert, der ehemals weiße Verband war an einigen Stellen von altem Blut dunkelrot getränkt.
    „Das Gleiche könnte ich wohl dich fragen, wenn ich es nicht schon gehört hätte“, sagte Ruga und blickte besorgt an Javert herunter. „Stimmt das wirklich, dass dich ein Ork angegriffen hat?“
    „Ja, das stimmt wirklich“, bestätigte Javert. „Draußen vor der Stadt, nicht weit vom Osttor in einer Höhle. Ich hatte schauen wollen, was es mit diesem Moleratkönig aus Fedolars Aufzeichnungen zu tun hat. Du hattest mir diesbezüglich ja etwas in deine Zusammenfassung geschrieben, die übrigens sehr gut war. Gefunden habe ich dann einen schlafenden Orksklaven. Ich weiß nicht, ob das ein Treffer war. Getroffen hat er dann aber jedenfalls mich ein paar Male. Mika war gerade auf Patrouille und hat mich gerettet.“
    „Der Kerl hat auch vor nichts Angst …“, murmelte Ruga. „Der hat dich ganz schön erwischt, der Ork, was? Verdammt noch eins, und ich habe mir schon gedacht, nicht dass du noch alleine irgendwo hin losziehst, wo du gerade neu auf der Insel bist. Einen Ork hatte ich dabei natürlich nicht in Sinn. Du hättest doch einen von uns vorher fragen müssen, dafür sind wir doch da! Wir wären doch mitgekommen!“ Ruga seufzte kraftlos. „Jetzt habe ich ein verdammt schlechtes Gewissen, immerhin bin ich ja ein Stück weit mitverantwortlich dafür, dass du in diese Höhle gegangen bist.“
    „Die Verantwortung trage alleine ich selbst“, sagte Javert. „Ich war zu ungeduldig. Ich hatte eigentlich vorgehabt, dich noch einmal nach der Sache zu fragen und dich mitzunehmen, aber dann bin ich doch alleine losgegangen. Es war dann Zufall, dass ich direkt in diese Höhle gestolpert bin. Aus den Dokumenten ging ja nicht einmal hervor, wo genau der Treffpunkt mit diesem Herrn Moleratkönig sein soll. Ehrlich gesagt habe ich die Stelle in den Originaldokumenten selber überhaupt nicht finden können, allein deswegen hatte ich vorgehabt, dich noch einmal danach zu fragen.“
    „Das wundert mich nicht“, sagte Ruga. „Ich muss gestehen, ich habe ja selber kaum durch diesen Wust durchgeblickt. Der Kerl muss ja wirklich völlig irre gewesen sein, also dieser Fedolar. Gut, das ist keine Überraschung bei jemandem, der mal eben fünf Leute um die Ecke bringt und vorher sonstwas mit denen anstellt. Aber was der Kerl geschrieben hat, war stellenweise ein völliges Durcheinander. Kann auch sein, dass mir da irgendwie etwas durchgerutscht ist und ein paar Blätter noch in der Schreibstube herumliegen. Ich wollte schnell fertig werden, das ist der Ordnung wohl etwas zum Verhängnis geworden. Und am Ende dann auch dir. Sorry nochmal.“
    „Das kann passieren“, sagte Javert. „Ich würde dich nur bitten, die fehlenden Blätter noch zu suchen, damit ich die zu den Unterlagen nehmen kann. Das sind ja immerhin potentielle Originalbeweismittel, unabhängig davon, wie wirr die Ausführungen darin sind. Aber das machst du dann einfach, wenn du kannst, das muss nicht sofort sein.“
    „Nee, das mache ich sofort“, sagte Ruga. „Fange ich gleich mit an, wenn ich mit Pablo Besprechung hatte, und dann reiche ich dir das rein.“
    „Für mich muss sich aber niemand überarbeiten, das habe ich ja hoffentlich schon klargestellt“, sagte Javert milde lächelnd. „Und wo hast du deine Verletzung nun aufgesammelt? Wenn ich von meinen eigenen kleinen Schrammen mal hochrechne, dann müsstest du dich ja mindestens mit einer kleinen Orkarmee gestritten haben. Gab es Probleme bei Bengars Hof?“
    „Bei Bengars … ach, das hat man dir erzählt“, sagte Ruga, der etwas irritiert schien. „Ja, allerdings. Seit Onar seinen Söldnerbestand auf seinem Hof und im Umland so drastisch reduziert hat, wachsen die Probleme mit den Banditen immer weiter an. Würde mich nicht wundern, wenn einige der Söldner nicht sogar direkt zu den Banditen herübergewechselt sind. Früher sind wir bei Bengar immer nur zu zweit aufgeschlagen, aber ich glaube, das reicht nicht mehr. Na ja, für zwei gegen fünf bin ich trotzdem noch gut aus der Nummer herausgekommen, du hättest dir die Banditen am Ende mal anschauen sollen. Ist trotzdem einfach eine richtig große Scheiße. Vor allem, weil wir den Mist ja eigentlich machen, um von Bengar und den anderen Bauern abkassieren zu können, dafür, dass wir sie beschützen. Aber ganz ehrlich: Für das Gold lohnt sich das echt nicht mehr. Aber ich hätte halt auch Bauchschmerzen, den Hof einfach sich selbst zu überlassen. Der würde binnen einer Woche überrannt, die Leute da haben doch keinen. Onar interessiert sich nicht mehr für die, der hält allenfalls ab und zu mal die Hand auf. Du kannst die Leute da ja nicht einfach alleine lassen. Und wer meldet sich deshalb dann eben doch immer wieder aufs Neue freiwillig …?“ Ruga verzog seine Miene zu einem milden Lächeln.
    „Ich glaube, ich werde nie wieder über irgendetwas an meiner Arbeit jammern“, sagte Javert anerkennend. Ruga lachte.
    „Javert, ich sehe dir an, dass du vermutlich noch nie in deinem Leben über etwas gejammert hast. So viel Menschenkenntnis habe ich.“
    „Ich kann es glaube ich ganz gut verstecken.“
    Ruga zuckte mit den Schultern und stand gemeinsam mit Javert noch etwas unschlüssig herum, aber nach einiger Zeit fanden sie die stumme Übereinkunft, ihr Zufallstreffen jetzt zu beenden.
    „Dann will ich mal zu Pablo, der kann nämlich echt ungemütlich werden, wenn man Termine mit ihm nicht einhält“, sagte Ruga. „Wohin gehst du? Feierabend? Wäre die beste Zeit, jetzt ist es noch nicht so heiß. So viel Schlaf kann man auf der Arbeit ja auch nicht nachholen.“
    „Ermittlungen“, sagte Javert. „Ich will mal schauen, ob ich herauskriege, wie und wo in der Stadt Spruchrollen gehandelt werden. Vor allem die verbotenen. Hast du irgendwelche Tipps für mich?“
    „Ja“, sagte Ruga. „Wenn dir bei deinen Ermittlungen ein Ork begegnet, dann halte bitte größtmöglichen Abstand von ihm.“
    Ruga verabschiedete sich lachend und wollte schon die Räumlichkeiten der Kaserne betreten, als Javert ihm noch nachrief: „Wenn du Peck siehst, kannst du ihm Bescheid sagen, dass ich wegen der Sache mit den Spruchrollen ermittle und er sich bei mir melden soll?“
    „Mach’ ich“, rief Ruga über die Schulter zurück und verschwand dann in den Tiefen des kühlenden Ziegelbaus.
    Javert trat die großen Treppen von der Kaserne herunter zum Marktplatz. Obwohl er seine Milizuniform nicht trug, hatte er den Degen angelegt, da es auf Khorinis selbst für einfache Bürger üblich war, sich bewaffnet im öffentlichen Raum zu bewegen. Javert fragte sich, ob dies der gegenseitigen Abschreckung dienen sollte und ob das wirklich für mehr Sicherheit oder doch nur für größeres Eskalationspotential im Falle einer Streitigkeit sorgte.
    Einer der Händler machte gar keinen Hehl daraus, dass er Schriftrollen und Tränke verkaufte. Es war ein hagerer, weißhaariger Mann, dessen Auslage vor Pergamenten geradezu überquoll. Seine Nase war wie der Schnabel eines Adlers, seine Augen waren ebenso wachsam wie die eines Greifvogels.
    „Guten Tag“, eröffnete Javert das Verkaufsgespräch. „Ich interessiere mich für Ihre magischen Schriftrollen. Stellen Sie die selber her?“
    „Oh, nein“, sagte der Händler. „Ich bin Kaufmann und kein Gelehrter, und schon gar kein Magier. Ich lasse mich vom Kloster beliefern. Das gilt auch für meine Tränke, seit Constantino mich wegen einer kleinen … Meinungsverschiedenheit nicht mehr beliefert.“
    „Was haben Sie denn so an Schriftrollen im Sortiment?“
    „Oh, eine ganze Bandbreite“, sagte der Händler und rückte mehr schlecht als recht ein paar der herausragenden Rollen zurecht. „Vom einfachen Lichtzauber über die komplexeste Feuermagie ist alles dabei. Und falls dabei mal etwas anbrennt, habe ich auch einige Wasserzauber im Angebot.“
    „Und wie sieht es aus, wenn ich, sagen wir mal, Probleme zwischenmenschlicher Art hätte, die ich auf jeden Fall gelöst haben will, aber dies auf keinen Fall mit Gewalt? Wenn ich einen Gesprächspartner einfach mal ein wenig herunterbringen will, zum Beispiel?“
    Die Lippen des Händlers bebten, er konnte sich ein Grinsen jetzt nicht mehr verkneifen. „Herr Milizionär“, sagte er, „da müssen Sie sich schon etwas geschickter anstellen, wenn Sie auch mal unter die Ladentheke gucken wollen.“
    Javert fiel dazu nicht rasch genug eine Antwort ein, sodass der Händler, den irritierten Blick Javerts einfangend, einfach fortfuhr.
    „Ich habe dich gestern schon in Uniform hier auf dem Marktplatz gesehen, als du eine Waffe gekauft hast. Ich bin zwar alt, aber noch nicht senil.“
    „Das wollte ich auch gar nicht behaupten“, sagte Javert und lächelte betreten. „Javert, mein Name“, sagte er und streckte dem Händler seine unverbundene und unverletzte Hand entgegen.
    „Zuris“, sagte der Händler und ergriff Javerts Hand kurz und fest zum Gruße. „Ich denke, wir können offen miteinander sprechen, wo wir jetzt ohnehin beide wissen, woran wir sind. Gibt es in der Stadt wieder Probleme mit illegalen Spruchrollen? Meine Ware ist sauber, du kannst sie jederzeit von vorne bis hinten durchgucken. Vorzugsweise natürlich nach Geschäftsschluss, damit keine potentiellen Kunden vergrault werden.“
    „Nicht nötig“, winkte Javert ab. „Ja, ich ermittle gerade wegen ein paar Spruchrollen, die im Stadtgebiet aufgetaucht sind und wirklich nicht hier hingehören. Weißt du dazu irgendetwas?“
    Zuris schüttelte den Kopf. „Wie gesagt, meine Ware ist sauber, was natürlich jeder Händler von sich sagt, aber bei mir stimmt es eben. Gerüchte darüber, dass auch verbotene Magie in der Stadt zirkuliert, die gab es natürlich immer, und ich hatte nie Zweifel, daran zu glauben. Das gibt es in jeder Stadt. Selbst in meiner Heimat, dem beschaulichen Montera, gab es einen, der mit Schlaf- und Vergessensspruchrollen gehandelt hat. Bis sie ihn Hopps genommen haben, was verdammt nochmal auch zu Recht passiert ist. Entschuldige meine Wortwahl.“
    „Schon entschuldigt“, beschied Javert. „Weißt du denn, wer in der Stadt noch Spruchrollen verkauft, außer dir?“
    „Ich wäre kein guter Kaufmann, wenn ich das nicht wüsste“, sagte Zuris mit nicht zu verhehlendem Stolz. „Die nächste Anlaufstelle ist gar nicht weit, denn Jora da drüben mit seinem Stand direkt an der Stadtmauer hat auch manchmal die ein oder andere Schriftrolle im Angebot. Das sind aber nur einfache Sachen, Lichtzauber und dergleichen. Und bitte: Das ist in keinem Falle als Verdächtigung gemeint! Für Jora würde ich ohne zu zögern meine Hand ins Feuer legen. Wenn ich irgendwo nach verbotener Magie suchen würde, dann würde ich es im Hafenviertel tun, genauer gesagt bei Ignaz.“
    „Wo finde ich Ignaz?“
    „Wenn du ins Hafenviertel reinkommst, dann direkt links an der Mauer entlang vorbei an Carls Schmiede bis zum Ende, dann wirst du es wahrscheinlich schon rauchen sehen. Ich möchte Ignaz nichts unterstellen, allein schon, weil du mich nicht dazu bringen wirst, schlecht über Händlerkollegen zu sprechen. Aber es lässt sich nicht leugnen, dass der Kerl knallverrückt ist, im wahrsten Sinne des Wortes. Und ich kann mir vorstellen, dass zumindest ein Teil seiner Kundschaft dem zwielichtigen Gewerbe nicht abgeneigt ist, und da ist der Griff zur verbotenen Magie ja auch nicht mehr weit. Vielleicht weiß er was.“
    „Alles klar, danke“, sagte Javert. „Noch jemand?“
    „Sonst bekommt man Magie nur im Oberen Viertel, glaube ich – jedenfalls auf offiziellem Wege. Der Alchemist Salandril handelt nebenher auch mit Spruchrollen, wie ich erfahren habe. Und Lutero hat sich auf Raritäten, Kuriositäten und ausgefallene Kundenwünsche spezialisiert. Der könnte auch ein interessanter Ansprechpartner für dich sein, wenn es darum geht, besondere Waren aufzuspüren. Aber wie gesagt: Ich zähle hier nur Namen auf, das sind keine Unterstellungen oder dergleichen. Ich bezweifle sogar, dass es sich einer der anerkannten Händler hier leisten kann, zusätzlich zum normalen Geschäft noch ein Dunkelgewerbe zu betreiben. Das Risiko ist viel zu hoch. Viel eher kann ich mir vorstellen, dass irgendwelche armen Seelen im Hafenviertel auf halbseidenem Wege Schriftrollen herstellen oder auf dem Seeweg einschiffen lassen, um die Rollen einzeln an Interessenten abzuverkaufen, und das am besten nicht bei Tageslicht. Aber das ist nur das, was ich dazu denke. Ich bin kein Ermittler.“
    „Danke, du hast mir damit schon sehr geholfen“, sagte Javert. „Du vermutest, dass die Spruchrollen auf dem Seeweg eingeschifft werden?“
    „Ich kann es mir kaum anders vorstellen“, meinte Zuris. „Irgendwo müssen die Schriftrollen ja auch angefertigt werden. Jemand Ungelerntes wird wohl kaum Kopien herstellen können, die dann auch tatsächlich Zauberkraft in sich tragen. Ich kann so etwas jedenfalls nicht, und das obwohl ich schon seit über zwei Jahrzehnten mit Spruchrollen handele. Im Kloster der Feuermagier wird diese Art von Magie ja wohl kaum hergestellt werden, so etwas wird dort mit Sicherheit nicht toleriert. Und da ich mir nicht vorstellen will und vorstellen kann, dass in unserer Stadt unerkannt ein Schwarzmagier sein Unwesen treibt, der diese Rollen herstellt …“ Zuris brach ab und zuckte mit den Schultern.
    „Verstehe“, sagte Javert. „Das klingt alles sehr plausibel. Vielleicht willst du direkt als Ermittler bei der Miliz einsteigen … ?“
    „Mit Sicherheit nicht“, lachte Zuris. „Das hätte mir gerade noch gefehlt. Ich bin froh, wenn ich noch ein, zwei Jahre hier am Markt stehen und mich dann endlich und wohlverdient zur Ruhe setzen kann.“
    „Es sei dir gegönnt“, sagte Javert und wollte sich schon zum Gehen wenden, als ihm noch etwas einfiel.
    „Du hattest von einem Streit mit Constantino geredet … da ging es aber nicht zufälligerweise um Spruchrollen?“
    „Oh, nein, nein“, winkte Zuris ab. „Das war etwas rein … Privates. Zwei Sturköpfe unter sich.“
    „Ich verstehe“, sagte Javert. „Dann wünsche ich noch einen erfolgreichen Tag.“
    „Ebenso, ebenso“, sagte Zuris und wandte sich dann seinem perfekt geordneten Sortiment an Tränken zu, um es noch ein wenig mehr zu ordnen.
    Javert wollte sich gar nicht weiter auf dem Marktplatz aufhalten und stattdessen direkt ins Hafenviertel gehen, um Ignaz aufzusuchen. Er schritt an der Herberge zum schlafenden Geldsack, die er kurz nach seiner Ankunft auf der Insel als Unterkunft in Betracht gezogen hatte, vorbei auf den Platz, den die Khoriner noch immer den Galgenplatz nannten, und das mit Recht, denn der Galgen war hier immer noch aufgebaut. Die Todesstrafe allerdings war auch auf Khorinis abgeschafft worden, als der letzten Region im Königreich Myrtana. Das stimmte allerdings nur in Friedenszeiten, zu denen auch die momentane Phase der Friedensverhandlungen mit den orkischen Kriegsherren auf dem Festland gezählt wurde. Unter Kriegsrecht waren Hinrichtungen noch erlaubt, das galt für Khorinis wie für den gesamten Kontinent.
    Javert überquerte den Galgenplatz und gelangte zum Vorplatz der Taverne zur fröhlichen Mastsau, unweit vom Adanosschrein der Stadt, an dem am Tage von Javerts Ankunft ein Wassermagier eine Predigt gehalten hatte. Javert war davon nach wie vor verblüfft, weil er Khorinis zuvor dem Innosglauben zugeordnet hatte, was durch das Kloster der Feuermagier ja auch eindeutig belegt wurde. Dass es in der Hafenstadt selbst aber keinen Schrein gab, der Innos geweiht war und dafür einen Adanosschrein, konnte er sich nur mit der Nähe zum Wasser erklären, auch wenn Adanos üblicherweise nicht besonders häufig von Seefahrern verehrt wurde, weil die vermutlich am besten wussten, dass bei einem Sturm auf hoher See göttlicher Beistand meist ebenso fern war wie das nächste Stück Festland.
    Nach kurzer Orientierung auf dem Vorplatz zu Coragons Kneipe bog Javert in eine kleine Unterführung ein. Er passierte dabei eine kleine Alchemiestube zu seiner Rechten, in der einen alten, ausgezehrten Alchemisten über einem Kessel buckeln sah. Javert war sich sofort sicher, dass es sich bei diesem Mann um Constantino handeln musste und spielte mit dem Gedanken, ihn zu seinem Verhältnis nach Zuris auszufragen. Als sich der Alchemist aber umwandte, entschied Javert schnell anders und setzte seinen Weg fort.
    Die Sonne stach und Eisen klirrte, als Javert wieder ins Freie trat. Rechts von ihm war ein alter Schmied bei der Arbeit, der unbeirrt und mit grimmigem Gesichtsausdruck seinen Hammer auf eine Klinge niederfahren ließ und ihn, Javert, gar nicht bemerkte. Direkt geradeaus vor Javert lag ein kleiner Wachturm, vor dem ein Milizionär postiert war, den Javert nicht kannte und der allen Anschein machte, dass er in seiner Langeweile gerade nicht gestört werden wollte. Schräg rechts von Javert führte ein plattgetretener Lehmweg steil herunter zum Hafenviertel. Von hier aus konnte man die wie von der Hand eines Riesen wild durcheinander gesetzten Holzhütten sehen.
    Javert folgte Zuris’ Wegbeschreibung, indem er beim Hinabsteigen des Wegs bei der erster Gelegenheit nach links in eine Gasse bog, die von der einen Seite durch die innerstädtische Stadtmauer, von der anderen Seite durch eine unförmige Hüttenreihe gebildet wurde. Er war noch nicht einmal außer Hörweite der Schmiede, die er gerade noch passiert hatte, da schwoll auch schon wieder neues Eisengehämmer an. Nach wenigen Metern kam hinter einer weit in den Weg hereinragenden Holzhütte eine behelfsmäßige Schmiede zum Vorschein, an der ein älterer, sonnengebräunter Schmied mit zum Zopf zusammengebundenen Haaren vor einem Amboss stand, sich von diesem aber jetzt zugunsten eines Wassereimers abwandte, in dem er die zurechtgehauene Klinge nun zischend abkühlen ließ. Javert kassierte einen neugierigen Blick, als er sich zwischen den Schmiedeanlagen hindurchschlich, wurde ansonsten aber nicht vom Schmied behelligt. Als er zum Ende der Gasse kam, die mit der äußeren Stadtmauer abschloss, war rechts von ihm nur noch eine Hütte übrig. Nichts rauchte, nichts zischte. Trotzdem musste das laut Zuris’ Wegbeschreibung die Hütte von Ignaz, dem Alchemisten, sein. Die Tür war zu. Hinter Javert begann von der Schmiede her Eisen auf Schleifstein zu kreischen.
    Javert klopfte an, einmal, zweimal, dreimal. Die Hütte hatte keine Fenster, durch die Javert hindurchsehen konnte, aber die Brettertür bot ein paar kleinere Lücken. Da nicht besonders viel Licht in die Hütte fiel, sah Javert beim Durchspähen aber vor allem Dunkelheit. Javert klopfte noch ein paar Male und rang sich ein aufforderndes „Hallo? Ignaz?“ ab, bevor er aufgab. Wenn der Kerl nicht da war, dann war er eben nicht da.
    „Nicht ein einziges Rauchzeichen, schon seit etwa drei Tagen“, hörte Javert eine Stimme hinter sich sagen. Das Schleifgeräusch hatte aufgehört und der Schmied stand nun hinter ihm. „Kenne ich sonst gar nicht von ihm. Der verlässt seine Hütte ja normalerweise nicht einmal zum Einkaufen, sondern lässt sich alles bringen.“
    „Vielen Dank für die Information“, sagte Javert. „Und wer sind S – wer bist du?“
    „Ich bin Carl“, sagte der Mann mit einem gewissen unterschwelligen Stolz. „Ich bin der Schmied hier.“
    „Das habe ich mir schon gedacht.“
    „Ich bin vor allem Werkzeugschmied, mache aber auch alles andere, was hier im Viertel so anfällt. Die Leute haben hier ja sonst niemanden. Oben bei Harad sind die Schmiedearbeiten viel zu teuer. Ich mache es dann für kleines Geld.“
    „Und der Alchemist, Ignaz? Was hat der für Kunden?“
    „Ja, das frage ich mich manchmal auch“, sagte Carl, der die bis gerade eben noch geschliffene Klinge noch immer in der Hand hielt. „Das sehe ich eigentlich nur sehr selten, dass jemand bei Ignaz ein und aus geht. Da passiert häufig wochenlang gar nichts. Und dann sind es meistens nur Leute hier aus dem Viertel, die sich keinen Arzt leisten können und es dann eben bei Ignaz versuchen. Manchmal kommen sie dann wieder, manchmal nicht. Keine Ahnung, ob das dann heißt, dass das Mittelchen geholfen hat, oder ob das genau das Gegenteil bedeutet. Ich glaube, ich will es auch gar nicht wissen.“
    „Wäre es denn denkbar, dass Ignaz auch nachts von Leuten aufgesucht wird?“
    „Denkbar ist vieles“, sagte Carl schulterzuckend. „Aber ja, jetzt wo du fragst, ist das gar nicht mal so unwahrscheinlich. Erstens will nicht jeder gesehen werden, der zu Ignaz geht. Man weiß ja nicht, was die Leute von ihm so brauchen. Ich habe gehört, also nur aus Gerüchten, dass der wohl auch mit Potenzmitteln handelt. Da kommen die Leute dann wohl nachts. Ich kriege das natürlich nicht mit, weil ich nachts natürlich schlafe.“
    „Aber irgendetwas Auffälliges hast du in letzter Zeit nicht bemerkt? Abgesehen davon, dass die Hütte zugesperrt ist?“
    „Nein, nicht, dass ich wüsste. Also, was heißt schon auffällig. Das im Hafenviertel nachts herumgelärmt und krakeelt wird und was weiß ich nicht alles, das ist ja normal. Und ab und zu raucht und dampft und poltert es nachts mal aus Ignaz’ Hütte. Der Kerl schläft ja nie, glaube ich. Aber sonst … warum fragst du das denn eigentlich alles? Wenn du einen Alchemisten willst, dann versuch’ es lieber mal bei Constantino. Der ist allemal vertrauenswürdiger, und du siehst nicht so aus, als müsstest du jede Goldmünze zweimal umdrehen. Gerade wenn du dir deine Wunden behandeln lassen willst, solltest du da keinen herumpfuschen lassen. Kann übel ausgehen. Bin Beliar auch schon einmal von der Schippe gesprungen, und angefangen hatte alles mit nur einem kleinen Kratzer, der Finger war ja nicht mal ganz ab.“ Wie zum Beweis hob Carl die Hand und präsentierte einen äußerst demoliert und zerquetscht aussehenden Ringfinger.
    „Mag sein, aber man wird nicht reich, indem man Gold verschenkt. Ich würde einfach gerne wissen, was Ignaz im Angebot hat.“
    „Ja gut“, sagte Carl etwas ratlos. „Aber dann musst du wohl später wiederkommen. Irgendwann wird er schon wieder aufmachen. Aber na ja, wer weiß das schon. Der Kerl ist wirklich ein Rätsel.“
    „So scheint es mir auch“, beschloss Javert das Gespräch. „Danke für die Hilfe und vielleicht bis später.“
    Carl verabschiedete sich wortlos, indem er die Hand wie zum militärischen Gruß erhob. Dann begab er sich wieder mit seiner Klinge an den Schleifstein. Das Kreischen setzte wieder ein und trieb Javert heraus aus der Gasse, zurück zum Hauptweg, der hinunter zum Hafenkai führte. Als er den Weg herabschaute, sah er die Rückseite einer Milizionärsuniform. In ihr steckte ein breit gebauter, glatzköpfiger Mann mit dunkler Hautfarbe. Das konnte doch nur einer sein.
    „Peck! Peck!“, versuchte Javert sein Glück und tatsächlich blieb der Angerufene stehen und wandte sich um. Als er Javert erkannte, kam er auf ihn zu.
    „Dir scheint es ja schon wieder ganz gut zu gehen“, sagte Peck und wies auf die Verbände an Javerts Schläfe und am Arm, obwohl man denen mit Sicherheit nicht ansehen konnte, wie es um Javerts Wundheilung bestellt war. Javert nickte. „Alles in allem nur ein paar Kratzer, auch wenn es hier und da zwickt. Gut, dass wir uns treffen. Ich nehme mal an, Ruga hat dich ins Hafenviertel geschickt?“
    Peck runzelte die Stirn. „Ruga? Warum sollte der das denn machen? Nee, den habe ich heute noch gar nicht gesehen. Ich drehe hier einfach nur meine gewöhnliche Runde. Wieso fragst du, wolltest du etwas Bestimmtes von mir? Gibt es etwa Neues in der Sache wegen diesem Fedolar?“
    „Noch nicht, aber genau deshalb wollte ich mit dir sprechen. Ich bin auf der Spur der verbotenen Schriftrollen, ich folge also im Wesentlichen deiner Idee. Ich war gerade bei Ignaz, oder besser gesagt vor Ignaz’ verschlossener Hütte. Ignaz ist entweder nicht da oder will nicht aufmachen. Das geht wohl schon seit Tagen so.“
    Peck zog die Augenbrauen hoch. „Seit Tagen? Wer hat dir das erzählt? Ich habe gestern einmal kurz vorbeigeschaut und habe auch gesehen, dass die Tür verschlossen war.“
    „Carl, der Schmied, hat es mir erzählt. Er hat seine Schmiede, oder das, was man eben so nennen will, direkt nebenan.“
    „Ha!“, machte Peck. „Zu mir hat der Penner natürlich keinen Mucks gesagt! Das hat schon Vorteile, dass dich in der Hafenstadt keiner kennt und du ohne Milizuniform nicht auffällst. Der Miliz gegenüber sind die Leute aus dem Viertel nämlich mehr als verschlossen. Kann man ihnen auch nicht wirklich verdenken, wenn du mich fragst. Hat Carl sonst noch etwas gesagt?“
    „Er wusste weiter wohl auch nichts, hat er gesagt. Das klang auch plausibel.“
    „Hm“, machte Peck. „Und die Tür ist schon mehrere Tage zu, hat er gesagt? Wie lange denn?“
    „Drei Tage, hat er gesagt.“
    „Klingt ja ganz so, als sei ihm etwas Schlimmes passiert“, sagte Peck in einem abwesend-beiläufigen Tonfall, wie als hätte er gerade gemutmaßt, dass es morgen regnen wird. „Nun schau mich nicht so an“, raunte er Javert zu, als er dessen Blick auffing. „Ich weiß es ja nicht und vielleicht ist es auch unwahrscheinlich. Aber das ist doch mindestens Mal eine Rechtfertigung, mit der wir uns Zugang zu seiner Hütte verschaffen können. Und was wir dann finden, das finden wir dann.“
    „Ist dann nur die Frage, ob dem Richter das für einen Durchsuchungsbeschluss reicht …“, argwöhnte Javert. Daraufhin hellte sich Pecks Miene etwas auf.
    „Im Hafenviertel stellt sich genau diese Frage nicht“, erklärte er mit wissendem Grinsen. „Hat man dir noch nicht erzählt, oder? Der Richter hat nur im Oberen Viertel was mitzureden, das haben die exklusiv für sich ausbedungen. Alles ab Unterstadt darf die Miliz nach eigenem Ermessen durchsuchen. Du brauchst nur ’nen vernünftigen Grund. Und den haben wir ja jetzt.“
    „Hm“, machte Javert. „Mir kommt diese Differenzierung zwischen Oberem Viertel und dem Rest der Stadt ehrlich gesagt nicht wirklich gerecht vor.“
    „Weil sie das nicht ist!“, rief Peck amüsiert aus. „Aber so ist die Regelung nunmal. Und die Befugnisse, die wir haben, die sollten wir auch nutzen. Komm!“
    Javert verzichtete darauf, darauf hinzuweisen, dass er in dieser Sache die Ermittlungen leitete, und folgte Peck zurück in die Gasse mit Ignaz’ Hütte. Als Carl Javert in der neuen Begleitung sah, machte er große Augen und ließ den gerade in die Hand genommenen Hammer wieder sinken. „Na, jetzt kommen sie schon zu zweit“, murmelte der Schmied mehr sich selbst als den anderen beiden zu und beobachtete interessiert, wie Javert und Peck noch einmal an Ignaz’ Tür klopften.
    „So“, sagte Peck nach einigem weiteren Gepoltere an den Holzbrettern. „Jetzt hatte er mehr als genug Gelegenheit, sich zu melden, und wir müssen davon ausgehen, dass er schlimmstenfalls gar nicht mehr in der Lage ist, zur Tür zu kommen.“
    „Ich habe es dem Herrn hier doch schon erklärt, der macht seit Tagen nicht auf“, mischte sich Carl ein. „Ich wusste aber gar nicht, dass ich mit jemandem von der Miliz rede. Seid ihr denn nicht dazu verpflichtet, eure Uniform zu tragen? Ich meine, sonst könnte ja jeder kommen …“
    „Als Rekrut in meiner ersten Woche darf ich noch gar keine Uniform tragen“, log Javert sich der Einfachheit halber zurecht. „Und jetzt würde ich Sie bitten, Abstand von der Hütte und von uns zu halten, wir führen hier nämlich gerade eine Ermittlungsmaßnahme dur-“
    Javert unterbrach sich, als Peck der Bretterbude einen gewaltigen Tritt vor die Tür versetzte. Es rumste, aber noch war die Tür ganz. Peck trat direkt noch einmal zu. „Es gibt einen Schlüssel, der passt überall, und der heißt in meinem Falle Schlüssel Fünfundvierzig“, japste der Milizionär offenbar in Anspielung auf seine Schuhgröße. Dann nahm er nochmal ein wenig Anlauf, und mit einem dritten Tritt war er durch einen der Balken so weit hindurchgebrochen, dass er mit einem Bein in der Hütte stand.
    „Ich weiß nicht, ob mir gefällt, was hier passiert“, sagte Carl, der sich offenbar als Stellvertreter für den abwesenden oder unpässlichen Ignaz berufen fühlte.
    „Ich weiß es, und es gefällt mir gar nicht“, keuchte Peck, während er sein Bein aus dem in die Tür getretenen Loch wieder herauszog und dabei noch ein paar weitere Holzsplitter krachend ablöste. „Aber was muss, das muss.“ Er bückte sich und griff nun mit der Hand durch den Spalt in der Tür, fummelte einige Zeit lang herum und grinste dann breit, als er ein kleines Klacken hörte. Es war ihm gelungen, den Riegel der Brettertür von innen beiseite zu schieben. Die Tür, oder besser das, was von ihr übrig war, schwang müde und besiegt auf. Nun verließ eine kaum spürbare, unsichtbare Wolke die Hütte. Javert verzog das Gesicht, Peck warf ihm einen vielsagenden Blick zu. Es stank so fürchterlich, dass es eine Blutfliege umgehend aus der Luft geholt hätte. Sie betraten das Kabuff hintereinander, Peck vorneweg, dessen „Ach du Scheiße“ Javert erreichte, einen Moment bevor auch er selbst das Bett in der Ecke und den Menschen, der darin lag, sah. Der alte Mann sah aus wie ein dürrer, vor langer Zeit gefällter Herbstbaum: die Haut blass und fahl wie Birkenrinde, die Gliedmaßen knorrig wie Äste. Sein Gesicht verhärmt und verhärtet und den Mund in bizarrer Stellung offenstehend sah er zudem aus wie versteinert, kurz nachdem ihn jemand zu Tode erschreckt hatte. Überall auf seiner wachsigen Haut – der Mann trug lediglich eine Hose – befanden sich dunkle Flecken. Es war eine Leichenstarre, wie sie im Buche stand.
    „Hast du das gewusst?“, entfuhr es Javert, ohne zu wissen, wie er darauf kam.
    „Woher?“, fragte Peck kopfschüttelnd und legte dem toten Alchemisten einen Finger an den Hals, wie, als erwartete er ein medizinisches Wunder. Ein Kribbeln durchfuhr Javerts Körper.
    „Der ist nicht erst seit heute und auch nicht erst seit gestern tot“, befand Peck. „Scheiße.“
    „Bei Adanos“, tönte es in die Hütte hinein. Carl hatte sich bis in den Türrahmen hervorgewagt und bemühte sich, wenigstens einen Teil des toten Ignaz zu erspähen. „Ignaz ist tot?“
    „Ja“, sagte Javert, „und ich kann Ihre Aufregung darüber nur gut verstehen, aber Sie müssen sich jetzt bitte von dieser Hütte fernhalten. Das ist ein potentieller Tatort, an dem nun Spuren gesichert werden müssen. Bitte treten Sie aus der Tür heraus.“
    Carl sagte nichts, machte aber zwei Schritte rückwärts aus der Hütte heraus, um das Geschehen weiter aus der Entfernung zu beobachten.
    „Falls es denn nicht doch ein natürlicher Tod ist“, sagt Peck, der Ignaz’ Leichnam gerade mithilfe des Bettlakens so gewendet hatte, dass er nun auf dem Bauch lag. „Irgendwelche Kampfspuren erkenne ich hier jedenfalls nicht. Aber was heißt das schon, ich bin auch kein Spezialist.“
    „Dann sollten wir Spezialisten hinzuziehen“, entschied Javert.
    „Auf jeden Fall“, sagte Peck. „Aber lass uns vorher doch bitte noch die Hütte durchsuchen, bevor hier auf einmal zig Leute herumwuseln. Der Kerl ist in einer halben Stunde ja auch noch tot.“
    Javert nickte. Er fühlte sich unwohl mit der Leiche des Alchemisten hier im Raum. Immerhin war die Geruchswolke dünner geworden, nachdem sie nach draußen gezogen war. Es verblieb ein schwefeliger, leicht süßlicher Geruch, der vermutlich das Produkt diverser Gase und Dämpfe aus vielen Jahren war, die mit der Zeit ins karge Mobiliar der Hütte gezogen waren und nun auf ewig dort bleiben würden.
    So unordentlich, wie es hier war, sah die Bude aus, als sei sie bereits gründlich durchsucht worden. Javert öffnete als erstes aufs Geratewohl nacheinander drei klapperige Schubladen unterhalb des Alchemietisches, von denen die oberste offenbar als zufälliges Auffangbecken für diverse Substanzen gedient hatte und ansonsten nur ausgespuckte Obstkerne enthielt, die teils Schimmel in den schillerndsten Farben angesetzt hatten. Die mittlere Schublade enthielt diverse verbogene Zangen, eine leere Schachtel Streichhölzer und einen kleinen, zerbrochenen Mörser aus grauem Stein. Die unterste Schublade schließlich war bis auf zwei unbeschriebene Blatt Pergament vollkommen leer. Javert seufzte auf. Das konnte ja was werden, hier in dieser Bude.
    Währenddessen hatte sich Peck neben den improvisierten Bettkasten unweit von Ignaz’ Leiche gekniet und hantierte dort an einer großen Holztruhe herum. Nach einigen leiseren Klickgeräuschen ertönte irgendwann ein großes Klacken. Die Truhe war geöffnet, Peck klappte den Holzdeckel auf, die Scharniere quietschten um Gnade.
    „Gehört das hier zur Grundausbildung bei der Miliz?“, fragte Javert halb im Scherz, halb im Ernst.
    „Wohl eher zur Grundausbildung in der Hafenstadt generell“, raunte Peck belustigt über seine Schulter hinweg. „Wer ein echter Junge aus der Hafenstadt ist, der weiß, wie man Schlösser knackt. Habe ich aber natürlich immer nur dienstlich gemacht.“
    „Natürlich.“ Javert beugte sich nun auch über die Truhe. Statt eines spektakulären Funds befand sich darin aber nur ein Lederbeutel, der mit ein paar einsam klimpernden Goldmünzen gefüllt war.
    „Kein doppelter Boden?“, fragte Javert.
    Peck drückte ein wenig in der Truhe herum. „Wenn man die Staubschicht nicht mitzählt, dann nicht.“
    Die Hütte gab sonst wenig an Behältnissen zum Durchsuchen her. Einzig ein Kleiderschrank fehlte noch, der aber auch nur zwei Hemden und eine Hose beherbergte und weder Geheimgänge noch Geheimfächer verborgen hielt. Ansonsten lagen viele Gegenstände verstreut in der beengten Alchemistenhütte herum: Kessel, Schüsseln, Schalen, Flaschen, Reagenzgläser und Phiolen, ein fast leerer Honigtopf, ein Tablett mit Tassen und Eisenbesteck, teils gesprungene Einmachgläser mit allerlei Kräutern, Pilzen und sonstigen Ingredienzien, unbeschriftete Tränke aller Art, Kohle, Holz, ein Wasserbottich, halb abgerissene Regale, Asche, Glasscherben, Tonscherben, Schmutz, Dreck und Schleim in allen Farben, zwei tote Fleischwanzen, drei abgebrannte Kerzen und ein rostiger Schürhaken. Man hätte die Liste noch fortsetzen können, aber jedenfalls eines war in dieser Hütte nicht zu sehen: Schriftrollen mit verbotener Magie.
    „Kennst du das, wenn etwas so furchtbar unverdächtig wirkt, dass es schon wieder verdächtig ist?“, fragte Javert Peck, der gerade noch mit einem letzten verzweifelten Versuch beschäftigt war, nachzusehen, ob unter einem Spucknapf aus Messing nicht vielleicht doch noch der entscheidende inkriminierende Beweis zu finden war.
    „Genau mein Gedanke“, sagte Peck, ließ den Spucknapf Spucknapf sein und erhob sich mit krachenden Knien aus seiner Hocke. „Sowohl, was die magischen Spruchrollen angeht, als auch, was Ignaz’ Ableben hier betrifft. Ich hätte darauf schwören können, dass Ignaz wenigstens zum Teil mit den Dingern handelt, da gab es vor einem halben Jahr oder so schon einmal Gerüchte, aber man konnte ihm nichts nachweisen. Dass hier jetzt aber rein gar nichts in der Richtung zu finden ist …“
    „Du glaubst, Ignaz ist keines natürlichen Todes gestorben?“, griff Javert den neuen Gedanken auf.
    Peck atmete einmal tief ein und einmal tief aus. „Was weiß denn ich. Aber irgendetwas ist hier doch komisch, findest du das nicht auch?“
    „Mag sein“, stimmte Javert zu. „Aber ohne Spuren … ich wüsste jetzt keine Anhaltspunkte, warum Ignaz nicht einfach in seinem Bett gestorben sein sollte. Ohne Fremdeinwirkung, meine ich. Aber man sollte keine Hypothese zu früh verwerfen, da hast du Recht. Ich würde dann mal zur Kaserne gehen und ein paar Leute holen, die sich Ignaz genauer anschauen und dann abtransportieren.“
    „Lass es uns andersherum machen“, schlug Peck vor. „Ich kenne ja meine Pappenheimer bei der Miliz und weiß, wer dafür am besten geeignet ist. Du kannst hier so lange warten und … na ja, vielleicht findest du noch was, vielleicht auch nicht. Halt die Stellung!“
    „Einverstanden“, sagte Javert mit großer Halbehrlichkeit. Er wagte einen kleinen Seitenblick auf Ignaz, nachdem Peck die Hütte verlassen hatte. Leises Grauen erfasste ihn. Sich vorzustellen, dass die menschliche Leiche in Wahrheit nur eine Puppe war, machte es nicht besser. Dass der Mann mit den wenigen grauen Haaren am Kopf so aussah wie ein fauler, alter Kerl, der nachmittags mit offenem Mund eingeschlafen war, verlieh der Szenerie eine morbide Komik.
    Javert blickte sich noch ein wenig in der Hütte um, unschlüssig, was er nun tun sollte. Erst jetzt fiel ihm so richtig auf, dass Carl, der Schmied, seinen Platz direkt an der Tür längst geräumt hatte und den Geräuschen von draußen nach zu urteilen gerade wieder die kleine, behelfsmäßige Essse anschürte. Offenbar war ihm die Schaulustigkeit vergangen, je länger und erfolgloser Javert und Peck die Hütte durchsucht hatten. Da Javert keinen Sinn darin sah, die wenig ertragreiche Durchsuchung noch einmal zu wiederholen, trat er aus der Hütte und sprach den Schmied von weitem an.
    „Carl, richtig?“, sagte er, in Ermangelung eines besseren Gesprächseinstiegs.
    Der Schmied blickte vom Blasebalg auf und dann zur Seite hin zu Javert. In seiner rechten Hand hielt er einen Lappen, der mal weiß gewesen sein mochte und mit dem er sich den Schweiß von den Schläfen tupfte.
    „Dürfte ich dich vielleicht noch etwas fragen?“
    „Hast du jetzt ja schon getan“, sagte er. „Kannst du dir aber auch sparen. Ich habe mit der Sache mit Ignaz nichts zu tun und ich sage dazu auch weiter nichts. Einen Mord lasse ich mir hier bestimmt nicht anhängen!“
    Javert holte das graue Mäppchen aus seiner Umhängetasche und stellte sich direkt neben Carl.
    „Es geht nicht um Ignaz, sondern um eine andere Sache“, erklärte Javert und fächerte die fünf Pergamente mit den Zeichnungen der Verstorbenen vor Carl auf. „Es geht um diese fünf Personen hier. Kennst du einen davon oder kommt dir jemand davon bekannt vor?“
    Carl machte große Augen. „Sind das die Verdächtigen?“
    „Nein, es geht doch jetzt gar nicht um Ignaz; wie oft denn noch?“, entfuhr es Javert. Kurz darauf bereute er diesen Nachsatz schon wieder. Die Nacht war offenbar zu kurz gewesen, als dass er am Tag zu jeder Zeit die Fassung bewahren konnte. Er fühlte sich jetzt gerade wirklich aufgekratzt wie ein blutiger Mückenstich.
    „Hm“, machte Carl, während er interessiert die Zeichnungen begutachtete. „Gute Bilder, aber so spontan sagen die mir alle nichts. Von wo soll man die kennen?“
    „Von irgendwoher“, antwortete Javert. „Von hier aus dem Viertel, von irgendeiner Kneipe, oder irgendwo zufällig auf der Straße gesehen …“
    „Nein, ich meine, warum werden die gesucht? Wenn es keine gesuchten Mörder sind, dann …“
    „Es sind Vermisste“, übte Javert sich weiter in Halbwahrheiten. „Und jeder Hinweis darauf, wo sie zuletzt gesehen wurden, könnte helfen.“
    „Ich weiß nicht“, sagte Carl milde kopfschüttelnd. „Du scheinst ja neu im Geschäft zu sein, ich kenne dich noch nicht. Vielleicht weißt du das noch nicht und man hat es dir anders erzählt. Aber von der Miliz erwartet hier im Viertel niemand große Hilfe, schon gar nicht, wenn es um Vermisste geht. Das kümmert die hohen Herren doch eh nicht, und für die arbeitet ihr doch den ganzen Tag. Nur für die. Ihr Jungs seid hier nicht gerade beliebt, ich hoffe, das ist dir klar. Wenn du in Uniform hier wärst, würde ich schon gar nicht mit dir reden. Alleine aus Selbstschutz. Sowas wird im Viertel nicht gern gesehen.“
    „Es ist schwierig, hier jemandem zu helfen, wenn niemand mit einem spricht“, argumentierte Javert und überzeugte sich selbst dabei vermutlich noch weniger als Carl. „Bist du dir sicher, dass du niemanden auf den Bildern wiedererkennst?“
    Carl seufzte auf und nahm Javert das Mäppchen mit den Zeichnungen aus der Hand, um jedes Blatt noch einmal durchzugehen. Die Stirn des Schmieds warf tiefe Falten, seine schwarzen, buschigen Augenbrauen, die einen auffälligen Kontrast zum ergrauten Haarschopf bildeten, zogen sich zusammen wie zwei fellige Raupen. Javert wandte den Blick von Carls Haupt ab, irgendetwas daran machte ihn sehr unruhig. Er fühlte leichten Schwindel in sich aufsteigen. Er hatte wirklich zu wenig Schlaf bekommen. Er begann, von einem Bein aufs andere zu treten, um seinen Kreislauf in Gang zu halten. Einige Schritte hinter Carl beobachtete er, wie eine Frau in einem schlichten, braunen Kleid in die Gasse einbog. Als sie sich ihnen langsam näherte, erkannte Javert, dass der Saum ihres Kleides in Fetzen hing und der Stoff von oben bis unten befleckt war. Im Gegensatz dazu waren ihre kinnlangen, rotblonden Haare sorgfältigst gepflegt. Ihrem Gesicht nach zu urteilen schien sie noch jung zu sein, aber dieser Schein konnte auch trügen, denn ihr unsicherer, fahriger Gang passte eher zu einer alten Frau.
    Carl sah nun von den Bildern im Mäppchen auf, schüttelte den Kopf und setzte zum Sprechen an. Als er Javerts Blick auffing, machte er einen eigenen Schulterblick nach hinten, wo die Frau bereits auf zwei Schrittlängen Abstand an ihn herangekommen war. Carl wollte offenbar etwas zu ihr sagen, als sie auf einmal wie von der Blutfliege gestochen zu schreien begann.
    „Verbrecher! Alles Verbrecher! Verbrecherbande!“
    Ihre Augen waren so starr, wie ihre Stimme schrill war, als sie das rief. Javert fand den einschießenden Gedanken höchst unangemessen, aber im ersten Moment hatten ihre Schreie wie das Krächzen eines Papageienvogels geklungen, der hilflos Worte ausstieß, die ihm seine Besitzer mal beigebracht hatten.
    „HILFE, VERBRECHER!“
    Die Frau schrie nun noch lauter, hatte einen Satz nach hinten von Carl weg gemacht und ballte ihre Hände so stark zu Fäusten, dass sich ihre Fingernägel längst ins eigene Fleisch gebohrt haben mussten. Javert wusste nicht, wie ihm geschah und konnte sich nur mit Mühe davon abbringen, die Hand an den Degen zu legen. Carl hingegen wirkte vergleichsweise ruhig.
    „Lucy“, sagte er zwischen zwei Schreien hindurch und machte einen Schritt auf die Frau zu, hielt aber inne, als sie anfing, den Rocksaum ihres Kleides zu ergreifen und dort schmale, dünne Stoffstreifen herauszureißen. Das dabei entstehende Geräusch war grässlich, wie eine Entsprechung zum Knacken von Knochen oder dem Reißen von Sehnen und Bändern.
    „Lucy, alles ist gut, beruhige dich“, fuhr der Schmied fort.
    „Verbrecherbande!“, rief die Frau, den Stoff ihres Kleides wie zerrinnenden Sand in ihren Fingern knetend. „Verbrecherbande brauchen Geld für ein kleines bisschen Sicherheit! Haaalloo gebt mir Geld! Für ein kleines bisschen Sicherheit! Das Kind ist in den Brunnen gefallen für ein kleines bisschen Sicherheit! Aus den Augen aus dem Sinn, aus den Augen eines anderen! Stecht ihnen die Augen aus für ein kleines bisschen Sicherheit! Ritsch ratsch ritsch ratsch, ein Messer für ein kleines bisschen Sicherheit!“
    Javert verstand nur Postkutsche, aber er war froh, dass sich die Lautstärke und die Dringlichkeit des Geschreis der Frau etwas verringert hatten. Sie klang jetzt weniger wie eine Besessene, sondern mehr wie eine Marktschreierin, die hartnäckig ein paar Ladenhüter anpries. Insoweit schien sich die Situation also stabilisiert zu haben. Javerts Herz pochte dennoch schnell und schmerzhaft in seiner Brust. Wenn Carl nicht an Ort und Stelle gewesen wäre, hätte er nicht gewusst, wie die Situation einzuschätzen war. Aber der Schmied wirkte so, als passierte das alles nicht zum ersten Mal.
    „Hier ist alles sicher“, sagte Carl und ging auf Lucy zu, die kurzfristig verstummt war. „Ich bin es, Carl. Erkennst du mich, Lucy?“
    Die Frau namens Lucy stand nun wieder mit den Fäusten geballt mitten in der Gasse, schrie aber nicht mehr, sondern sah abwechselnd auf den Boden und in den Himmel, als hörte sie etwas, von dem sie nicht sicher war, von wo es kam. Ihren Kopf bewegte sie dabei immer schneller hin und her, bis die Bewegungen zu einem wahren Schleudern anwuchsen. Ihre Augen waren starr aufgerissen und leer. Jetzt stürmte Carl auf Lucy zu, die just in diesem Moment in sich zusammenbrach. Der Schmied fing sie auf und bewahrte sie vor einer unsanften Landung. Kaum hatte er sie aufgerichtet, blinzelte sie ein paar Male, öffnete dann die Augen und sah Carl, der sie immer noch festhielt, müde an.
    „Carl“, sagte sie mit schwacher, sanfter Stimme, die so gar nichts mit dem Gekreische von vor noch einigen Augenblicken gemein hatte. „Bring mich nach Hause.“
    Carl legte den Arm um Lucy, und gemeinsam gingen sie, langsamen Schrittes, in die Richtung, aus der Lucy gekommen war.
    „Was war das eben?“, fragte Javert, als Carl gerade noch in Hörweite war, aber der winkte nur ab, legte im Vorbeigehen das Mäppchen mit den Zeichnungen auf seinen Amboss und verschwand dann mit Lucy aus der Gasse. Ein Blatt löste sich aus dem Mäppchen und segelte zu Boden. Als Javert herüberging und es aufhob, erwartete er für einen Moment, dass dort nun auf einmal das Bildnis von Lucy darauf zu sehen war, aber stattdessen war es die Zeichnung des Mannes mit dem markanten Kinn und den Wangengrübchen. Auch die beiden Frauenzeichnungen wiesen keine größeren Ähnlichkeiten mit Lucy auf. Natürlich nicht, denn die gezeichneten Frauen waren ja tot. Javert schüttelte diese seltsamen Gedanken ab. Er fühlte sich ganz zitterig, so sehr, dass er fast befürchtete, dass Lucy ihn mit ihrem Anfall angesteckt hatte.
    Javert vergrub kurz das Gesicht in seinen Händen und massierte sich sanft die geschlossenen Augen. Der nächste Tag, an dem nur Scheiße passierte, und dabei war es gerade einmal früher Nachmittag. Und er spürte jetzt schon, dass das nicht seine letzte Begegnung mit Lucy gewesen sein würde. Irgendetwas sagte ihm, dass diese Frau nicht einfach bloß geisteskrank war. Gerade, als der Entschluss in ihm reifte, Carl und Lucy nachzugehen, sah er eine Delegation der Miliz auf dem Hauptweg des Hafenviertels herunterschreiten. Peck war nicht mit dabei. Erst jetzt fiel ihm wieder ein, dass er ja einen Tatort zu bewachen hatte.
    „Hier drüben“, rief er und winkte den Milizionären zu. Ein paar von ihnen kannte er vom Sehen von seinem ersten richtigen Tag, als sie sich im Lagerhaus getroffen hatten, und auch sie erkannten ihn offenbar wieder. Erst auf den zweiten Blick erkannte Javert, dass auch Agon bereits mitgekommen war.
    „Ich grüße dich“, sagte der Mann im roten Hemd und lächelte verschmitzt. „Verheilt alles gut?“ Javert war irritiert. „Deine Verletzungen, meine ich“, sagte Agon nach einem kurzen Lacher. Jetzt begriff auch Javert, dass es noch nicht um Ignaz ging, sondern um seine eigenen Verpflasterungen im Gesicht und am restlichen Körper.
    „Ich denke schon. Es zwickt und ziept zwar noch ein bisschen, aber alles in allem hast du mich gut zusammengeflickt, würde ich sagen.“
    „Das will ich ja wohl meinen“, bekräftigte Agon. „Einhundert Prozent Kundenzufriedenheit! Zumindest von denen, die noch Rückmeldung geben konnten. Womit wir beim Thema wären …“
    „Er liegt da drüben, in der letzten Hütte am Ende der Gasse“, sagte Javert an Agon und die drei anderen Milizionäre gewandt. Zwei von ihnen trugen eine Holzbahre mit sich, der dritte hatte ein dunkles, schwarzes Tuch über die Schulter geschlungen.
    „Ich weiß, wo Ignaz wohnt“, sagte Agon und schritt auf die Hütte zu. „Oder gewohnt hat, besser gesagt.“ Auch die anderen Milizionäre setzten sich jetzt, wenn auch eher gelangweilt, wieder in Bewegung.
    „Peck und ich haben bereits alles durchsucht, aber weiter nichts gefunden“, erklärte Javert, als sie gemeinsam in und um Ignaz’ Hütte standen. „Also, außer Ignaz selbst natürlich. Wir haben an Ignaz keine äußeren Verletzungen entdecken können. Aber wir sind ja auch nicht die Fachmänner.“
    „Hmhm“, machte Agon etwas abwesend und beugte sich über den toten Leib Ignaz’, der gerade von zwei Milizionären auf die Bahre gehoben wurde. Den Männern schien das keine große Mühe zu bereiten; der dürre, ausgezehrte Alchemist musste sehr leicht sein. Javert wandte seinen Blick möglichst beiläufig vom versteinerten Totengesicht des Alten ab.
    „Wonach habt ihr denn gesucht?“, fragte Agon, während er mit seinen langen, dünnen Fingern über die graue, fahle Haut des toten Alchemisten strich. Javert fühlte bei diesem Anblick eine unangenehme Gänsehaut über seinen Körper kriechen.
    „Peck hatte da nämlich gar nichts weiter zu gesagt.“ Der junge Heiler richtete sich wieder auf und blickte Javert auffordernd in die Augen. Beiläufig wischte er sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
    „Nach Anzeichen für ein Gewaltverbrechen“, antwortete Javert. „Wir haben aber wie gesagt nichts gefunden.“
    „Ja, schon klar“, sagte Agon und verzog den Mund zu einer spöttischen Schnute. „Was ich meine: Warum habt ihr überhaupt erst Ignaz aufgesucht? Das muss doch einen bestimmten Grund gehabt haben. Oder brauchtet ihr etwas … Bestimmtes von ihm?“
    „Ermittlungen“, sagte Javert und zuckte möglichst unbeteiligt mit den Schultern. „Nichts Wildes.“
    „Hm“, machte Agon.
    „Und Peck?“, fragte Javert nun. „Wo ist er jetzt? Ich hätte erwartet, dass er wieder mit zurück kommt.“
    „Na, ihr sprecht euch ja gut ab, was?“, lachte Agon schnaubend. Er nickte kurz dem glatzköpfigen Milizionär zu, der ihn mit fragendem Blick, die schwarze Decke bereit, anschaute. Auf das Nicken hin breitete er die Decke über den toten Ignaz auf der Bahre auf.
    „Er musste wohl irgendwo anders hin, mir hat er das nicht genauer gesagt. Ich weiß manchmal nicht, was mit dem Typen los ist und was für eine Fleischwanze ihm über die Leber gelaufen ist. Mir erzählt der ja fast gar nichts. Aber dir scheint es da ja wohl kaum anders zu gehen, was?“
    Javert zuckte nur wieder mit den Schultern. Obwohl es heute wieder sehr warm war, fröstelte es ihn gerade. Das musste wohl die Müdigkeit sein, die er aus seinem Kopf zu verbannen versuchte und die sich dann im restlichen Körper Bahn brach.
    „Hier gibt es glaube ich nichts weiter zu sehen“, sagte einer der Milizionäre an der Bahre, ein Mann mit beeindruckendem schwarzen Schnauzbart, nach oberflächlichem Herumschauen in der Hütte. „Ich sehe nicht einmal, warum wir hier sind. Der Kerl ist halt von selbst eingegangen und fertig. Wir sind doch keine Bestatter.“
    „Danke für die Voreinschätzung, aber Todesursachen sind immer noch mein Metier“, sagte Agon unfreundlich und bestimmend. „Aber deine Tendenz teile ich. Nichtsdestotrotz: Ich will ihn untersuchen.“
    „Also Abmarsch?“, fragte der andere Milizionär an der Bahre, ein unauffälliger Typ mit tiefschwarzen Bartstoppeln, die nach einer morgendlichen Rasur wahrscheinlich noch am selben Tag abends bereits wieder hervortraten.
    „Abmarsch“, sagte Agon. Der Tross der Milizionäre setzte sich daraufhin in Bewegung, nachdem Javert, der im Türrahmen gestanden hatte, den Weg frei gab. Mit den bedeckten Füßen voran trugen sie Ignaz heraus. Agon bildete die Nachhut.
    „Ich würde gerne bei der Untersuchung dabei sein“, sagte Javert, der das natürlich nicht gerne wollte, aber eine gewisse Notwendigkeit dazu verspürte.
    „Dabei sein?“, fragte Agon irritiert und blieb kurz stehen; die morbide Prozession vor ihnen setzte ihren Weg unbeirrt fort. „Da passiert doch nichts Großes. Ich wollte das gerade nicht so sagen, denn ich bin ja der Mediziner und nicht er, aber Achim hatte schon Recht mit dem, was er gesagt hat. Der Kerl ist halt in seinem eigenen Bett gestorben, sowas passiert im Grunde jeden Tag. Die Untersuchung ist reine Formsache. Ich weiß nicht einmal, ob ich den Kerl überhaupt aufschneiden werde. Seine vergrößerte Leber kann ich mir auch so ganz gut vorstellen.“
    „Ich will mich natürlich nicht aufdrängen“, sagte Javert. „Wahrscheinlich hast du Recht. Aber das ist so eine Marotte von mir: Wenn ich irgendwo einen Fund mache, dann will ich auch genau wissen, was am Ende dabei herauskommt, selbst, wenn es gar nichts ist.“
    „Und ich will dich nicht abweisen“, sagte Agon und setzte sich langsam wieder in Bewegung. „Dann komm eben mit. Ich muss aber hoffentlich keine Angst haben, dass du dir alles bei mir abschaust und dann demnächst selber Obduktionen durchführst, oder?“ Er grinste leicht.
    „Innos bewahre“, sagte Javert, der sich Agons langsamem Gehtempo nun anschloss. „Das hätte mir gerade noch gefehlt.“

    Javert hatte aus respektvollem Abstand mit angesehen, wie die beiden Milizionäre den abgedeckten Körper des toten Alchemisten nach der Ankunft in der Kaserne in Agons Stube verfrachtet hatten. Kurz darauf bereute er nun schon das erste Mal, sich zum Beisein bei der Untersuchung gemeldet zu haben, denn er sah nun mit an, wie die beiden Männer den Leichnam auf dem Klappbett ablegten. Dem gleichen Bett, auf dem Javert tags zuvor noch selbst gelegen hatte. Natürlich, es gab hier ja auch keine andere Liege. Javert versuchte, seine innere Gedankenschnur abzuschneiden, auf der Szene um Szene von fiktiven toten Körpern aufgereiht waren, die alle vor ihm auf dieser Liege gelegen hatten. Das dünne Tuch, das Agon vorher noch rasch als Unterlage auf das Bett geschoben hatte, machte die Angelegenheit nicht wirklich besser. Trotz allem war Javert fest entschlossen, sich sein Unwohlsein nicht anmerken zu lassen, auch dann nicht, als Agon das schwarze Tuch, das Ignaz’ Leiche von oben bedeckte, mit einer schwungvollen Bewegung lüftete. Agons Blick war so kühl wie seine Miene, als er einen ersten Blick auf den Körper warf. Javert hatte den Eindruck, dass der Alchemist auf dem kurzen Transportweg nochmal fahler geworden war.
    „Danke“, sagte Agon an die beiden Milizionäre gewandt, als diese wortlos Agons Kammer verließen. Der letzte von beiden zog dabei die Tür von außen zu. Instinktiv schnürte sich Javerts Kehle zu, beim Gedanken daran, wie er die folgenden Minuten, und wer wusste, wie viele es werden würden, unauffällig durch den Mund atmen musste, denn schon jetzt begannen die ersten unangenehmen Gerüche in seine Nasenlöcher zu kriechen.
    „Kann man dem Rest der Kaserne sonst nicht zumuten, die machen sonst Terz“, kommentierte Agon. „Ich hatte ja mal den Vorschlag, die Obduktionen draußen im Hof stattfinden zu lassen oder meinethalben hinter der Kaserne, an der frischen Luft. Aber das war auch wieder nicht recht, weil das ja irgendein Bürger sehen könnte. Als sähen die das im Hafenviertel nicht genug. Überhaupt halte ich nichts davon, den Tod so zu tabuisieren. Jeder stirbt einmal, jeder weiß, dass man mal sterben muss und so gut wie jeder wird im Laufe seines Lebens mindestens einen toten Menschen sehen – und trotzdem muss das alles verheimlicht werden?“
    Javert fiel dazu keine gute Erwiderung ein, aber Agon wartete bei seinem Vortrag auch gar nicht auf eine Antwort. Er wandte sich von seinem Gast ab und griff nach einem kleinen, farblosen Tiegelchen auf einem vorbereiteten Tablett. Er öffnete den zierlichen Schraubverschluss und tunkte einen seiner schlanken Finger in die milchig-weiße Creme, die er sich sodann direkt unter seine Nase schmierte.
    „Übertüncht den Geruch“, sagte Agon. „Noch riecht man ja gar nichts, aber bevor ich es nachher vergesse … Ganz grundsätzlich komme ich auch mit Verwesungsgeruch klar, aber bevor man eine Leiche öffnet, weiß man nie so wirklich genau, was dort entweichen wird. Die reinste Wundertüte. Und ich mag Überraschungen nicht so gerne. Auch etwas davon?“
    Agon reichte ihm das Tiegelchen rüber und Javert beeilte sich, eine gerade so nicht unverschämt große Menge unter seiner Nase zu verreiben. Agons Befund, dass man ja noch gar nichts rieche, war Javert direkt in die Knie gewandert und hatte sie ganz wackelig gemacht. Die Nasensalbe war im ersten Moment auffallend geruchlos, aber dann bildete Javert sich ein, ein unterschwelliges Kräuteraroma wahrnehmen zu können.
    Unterdessen hatte Agon bereits ein langes, dünnes Skalpell an die Brust der aufgedeckten Leiche Ignaz’ geführt. Javert zwang sich, seine Augen offenzuhalten, während die Schneide in die Haut eindrang. Agon schnitt schweigend und konzentriert, aber mit ausdruckslos-zufriedener Miene an einem großen Rechteck am Brustkorb des toten Alchemisten herum. Dunkle Säfte stiegen dabei aus dem leblosen Körper heraus, die nur noch wenig mit Blut zu tun haben schienen. Wie das Skalpell von Agons Hand geführt auf und ab und hin und her tanzte, wirkte es wie das dürre Bein eines silbernen Vogels, der sich dazu herabgelassen hatte, durch einen düsteren Sumpf zu waten.
    Dann klappte Agon das angeschnittene Quadrat aus Haut um und legte das Gerippe des Brustkorbs des Toten frei. Der aus dem Inneren der Leiche austreibende Gestank traf Javert wie ein Faustschlag in die Magengrube und die Nasenlöcher zugleich. Vom unterschwelligen Kräuteraroma der Nasensalbe war nun keine Spur mehr. Javert fehlten die inneren Worte, um den Geruch zu beschreiben. Schwefelig, muffig, dicht, ein bisschen wie Schimmel, ein bisschen wie Erbrochenes, aber auch sehr scharf wie hochdestillierter Alkohol. Es war von allem etwas und von allem nichts. Agon war von dem Geruch offenbar völlig ungerührt, während er die Rippen im Fleisch des Alchemisten betrachtete. Das war für Javert insofern günstig, als er sich nicht auf ein nebenbei geplaudertes Gespräch mit dem Arzt konzentrieren musste, während er seinen gesamten Verdauungstrakt darauf drillte, jetzt bloß nicht nachzugeben. Der Impuls, den Raum zu verlassen, notfalls unter einem Vorwand, versiegte schnell, aber Javert hatte schon jetzt Angst vor dem Preis, den er dafür zahlen würde, zumal er diesen, da war er sich sicher, in mehreren, gestreckten Raten zu leisten hatte. Mit einem Tag und einer Nacht war es sicherlich nicht getan, bei dem, was jetzt gleich noch folgen würde.
    Als hätte Agon auf sein Stichwort gewartet, griff er zu einer bizarr gezackten Säge, die an einem Nagel an der Wand hing, besah sich noch einmal prüfend den Brustkorb der Leiche und setzte dann die Sägezähne an. Javert wandte seinen Blick nicht ab, sein Kopf und sein Hals waren versteift wie in einem Schraubstock, aber seine Augen fuhren ein Notprogramm und stellten auf unscharf, als Agon mit seinem Werk begann. Noch schlimmer als das Auf- und Abwiegen der Säge waren aber die Geräusche, die sie dabei verursachte. Es klang nicht viel anders als beim Sägen von Holz, von einem gelegentlichen Splittern und Knacken mal abgesehen, das aber vielmehr durch den ein oder anderen engagierten Fausthieb Agons verursacht wurde. Gerade diese scheinbare Alltäglichkeit der Geräuschkulisse, gepaart mit dem nun aufkommenden Geruch von Kakao, der für sich genommen fast angenehm war, ließ Schauer um Schauer über Javerts Haut fahren. Seine Augen hatten bereits eine subtile Suche in der Kammer nach einem Eimer oder einem vergleichbaren Gefäß begonnen, für den Fall, dass sich der Knoten in seinem Magen auf einmal löste. Aber Javert kämpfte darum, alles bei sich zu behalten, auch dann noch, als er nach einer schieren Ewigkeit des Sägens hörte, wie Agon mehrere kleinere Gegenstände auf dem Tablett ablegte, von denen er nicht genau wusste, was sie waren, es aber nur zu gut ahnen konnte. Der kühle Hauch, der beim Gedanken daran durch seinen Kopf wehte, half seiner Übelkeit fast ein wenig, minderte aber den Schrecken, der Javert durchs eigene Gebein fuhr, kein bisschen.
    „Hm“, brach Agon nun das Schweigen mit einem ostentativen Laut. Javert bereitete sich darauf vor, dass der Arzt den Gesprächsfaden mit ihm nun wieder aufgreifen wurde. Jetzt musste er sich noch einmal zusammenreißen. Vielleicht war es bald geschafft.
    „Das ist ja ein Ding. Ich glaube, sein Herz schlägt nicht mehr.“
    Agon blickte auffordernd zu Javert, für den dessen Gesprächsautomatik bereitwillig übernahm.
    „Herzinfarkt?“ Eine Sekunde, nachdem die Worte aus seinem Mund gepurzelt waren, bemerkte Javert, dass er einen besonders lustigen Witz des Arztes verpasst hatte.
    „Dafür gibt es keine Anhaltspunkte“, sagte der Arzt. „Wahrscheinlich war es einfach nur Altersschwäche. Oder der alte Kauz hat einmal zu viel eine seiner neuen Trankkreationen ausprobiert. Normalerweise hätte ich gedacht, dass er an irgendwelchen Dämpfen gestorben ist, aber dafür ist sein Herz zu klein. Starke Raucher und starke Männer haben eines gemeinsam: Ihre Herzen sind überdurchschnittlich vergrößert. Seins sieht aber ganz normal aus.“
    „Gibt es sonst irgendwo irgendwelche Unregelmäßigkeiten?“, fragte Javerts Stimme.
    „So weit ich sehen kann, nein. Keine äußeren Verletzungen, keine Anzeichen für ein Verbrechen. Überzeug dich selbst.“
    Javert trat auf Agons einladende Geste einen Schritt näher an den Leichnam heran und sah überall hin, nur nicht auf den Körper selbst. Hier musste er dem Arzt einfach mal vertrauen; allzu offensichtliche äußere Schrammen und dergleichen hätte Agon weder übersehen noch verschwiegen.
    „Dann war seine Zeit wohl einfach gekommen?“, fragte Javert so abgeklärt wie möglich.
    Agon nickte. „Besser hätte ich es nicht ausdrücken können. Alte Menschen hören nun einmal irgendwann auf zu atmen, da kommen wir alle noch hin. Wenn wir Glück haben.“
    Javert atmete einmal hörbar ein und wieder aus – beides durch den Mund. „Musst du noch weitere Untersuchungen machen?“
    Agon schüttelte den Kopf. „Das ist alles an Untersuchung, was ich einem alten, kränklichen Alchemisten aus dem Hafenviertel angedeihen lassen kann.“
    „Wie geht es dann jetzt weiter? Mit ihm, meine ich?“ Javert wies, sich selbst schon halb abgewandt, mit loser Geste auf den Toten auf der Pritsche.
    „Der wird jetzt nur noch bestattet.“
    Javert drehte sich doch noch einmal zu Agon hin. „Bestattet? Ich habe auf ganz Khorinis bisher keinen Friedhof gesehen. Finden die Beerdigungen im Kloster statt?“
    Agon lachte schnaubend auf. „Eher geht ein Scavenger durch ein Nadelöhr als ein Mann aus dem Hafenviertel ins Kloster. Und die machen auch dann keine Ausnahme, wenn er mit den Füßen voran durchs Tor kommt.“
    „Also?“
    „Also bestatten wir ihn auf Khoriner Art.“
    „Und das heißt?“
    „Da, wo alle hinkommen, die keine Hinterbliebenen haben, die sich um die Beerdigung anderswo kümmern könnten.“
    „Und wo wäre das?“
    „Willst du das wirklich wissen?“
    „Würde ich dann fragen?“
    Agon verzog das Gesicht. „Du wärest nicht der Erste auf Khorinis, der Fragen stellt, die er besser heruntergeschluckt hätte. Aber gut: Es stimmt, wir haben keinen Friedhof. Wir bestatten, falls du das so nennen willst, die Toten in der Kanalisation. An der Stadtmauer am Osttor, in einem Winkel direkt neben dem Marktplatz, befindet sich ein großes Gitter, das geöffnet werden kann. Dort lassen wir die Leichname hindurchfallen, auf dass wir sie nie mehr wiedersehen.“
    „In der Kanalisation!“, rief Javert mehr aus als dass er es fragte. „Bei allem Respekt, aber selbst wenn man auf Khorinis einen anderen Umgang mit den Toten pflegen sollte als auf dem Festland, dann müsste man doch wenigstens des Seuchenschutzes wegen …“
    Javert verstummte, als Agon anfing zu lachen und ihm der Spott geradezu aus den haselnussbraunen Augen zu springen schien. Javert schaltete schnell um und mühte sich ein gequältes Lächeln ab.
    „Du hast das geglaubt, oder?“, fragte Agon rhetorisch. „Ich glaube, das sagt sogar mehr über uns Khoriner aus als über dich, und das ist dann eigentlich sogar nicht zum Lachen. Nein, wenn wir jeden Toten in die Kanalisation verfrachten würden, dann würde es in dieser vermaledeiten Stadt noch mehr stinken als so schon. Wir haben in den Wäldern im Umland den ein oder anderen Ort, wo die Verstorbenen tief im Waldboden vergraben werden, in der Regel aber ohne Grabstein. Die Stadt beschäftigt ein paar Gärtner, die kümmern sich normalerweise darum.“
    „Ich dachte schon“, lachte Javert nun ernsthaft erleichtert. „Ich wollte hier wirklich niemandem zu nahe treten, aber so ernst, wie du das erzählt hast …“
    „Nein, nein, schon gut“, winkte Agon ab. „Ich sage ja: Das sagt mehr über Khorinis aus als über dich. Ich hätte es uns ja auch zugetraut. Na ja …“
    Javert verstand den Wink und wandte sich zum Gehen. „Gut, dann sind wir hier wohl fertig. Danke, dass ich bei der … dass ich dabei sein durfte.“
    Agons Augen blitzten noch einmal auf und er grinste. „Du bist wirklich der Erste, der sich für die Vorstellung bedankt hat.“

    Es wurde gerade früher Abend, als Javert, der den Nachmittag sinnlos über Papierkram brütend verbracht hatte, beschloss, dass es wohl besser war, wenn er in seine Behausung zurückkehrte. Das Abheften schweigsamer Karteikarten war lediglich eine Beschäftigung zur Überbrückung gewesen, bis Peck wieder auftauchte. Aber da der Milizionär immer noch nicht zurückgekehrt war, hatte Javert das Gespräch gedanklich längst auf den nächsten Tag verschoben. Er schob einen Packen Papier an die Kante seines Schreibtisches genau in das gedanklich dafür vorgesehene unsichtbare Rechteck hinein und nagte noch einmal lustlos an dem Apfel, der während des Essens schon ganz braun geworden war, weil die Ereignisse des Tages Javerts Restappetit sehr enge Zügel angelegt hatten. So gesehen war sein Aufenthalt in Khorinis eine Verschlankungskur, die er genau so an seinen ehemaligen Abteilungsleiter in Vengard hätte weiterempfehlen können, wenn nicht jede noch so gut gemeinte Empfehlung an dessen eiserner Beratungsresistenz abgeperlt wäre.
    Javert blickte vom mehligen Braun des Apfels auf, als er eine junge Stimme aus dem Flur hörte.
    „Aber nicht, dass das heute so eine Großaktion wird. Ich bin für heute Abend nämlich verabredet. Und wenn ich sie nochmal so versetze wie letzte Woche wegen dieser Scheiße mit dem illegalen Rattenkampf am Kai, dann war das wahrscheinlich die letzte Verabredung. Ich renne heute niemandem hinterher, weder Menschen noch Ratten, das sage ich dir jetzt schonmal.“
    „Reine Routine“, antwortete die Stimme von Ruga. „Die Rote Laterne ist mehr befriedet als ihre Kunden, das könnte ich im Prinzip auch alleine machen. Aber bei sowas gilt das Zwei-Augen-Prinzip, damit nicht … na ja, du weißt schon. Kannst dich bei Wulfgar bedanken, wenn er sich mal wieder herbequemt … ach, hallo Javert!“
    Ruga war in den Türrahmen zu Javerts kleinem Büro getreten, hinter ihm im respektvollsten Abstand, den die Enge der Kasernengänge hergab, Boltan.
    „Noch kein Feierabend?“
    „Immer im Dienst“, schüttelte Javert einen Klassiker der vielseitigen Beamtenkonversation aus dem Ärmel. „Das Gleiche könnte ich euch aber wohl auch fragen?“
    Ruga zuckte mit den Schultern. „Kleiner Kontrollgang zum Tagesausklang. Reine Routine.“
    „In der Roten Laterne?“, hakte Javert nach, während er unauffällig Rugas Verband an dessen Hinterkopf betrachtete.
    „Du hast deine Augen und Ohren ja wirklich überall!“, lachte Ruga. „Ja, das stimmt. Einmal in der Woche sehen wir da nach dem Rechten, aber in aller Regel sind wir da in fünf Minuten wieder raus.“
    „Einmal mussten wir aber bei einer Prügelei schlichten“, warf Boltan von hinten ein. „Meine Hand hat mir davon noch mehr als zwei Wochen weh getan, das weiß ich noch genau.“
    „Ja gut, ein paar Unbelehrbare gibt es immer“, kommentierte Ruga. „Aber im Allgemeinen ist da nichts los.“
    „Ich würde gerne mitkommen“, sagte Javert wider Gefühl und Vernunft. Er hatte für heute eigentlich schon genug gesehen, aber er brauchte dringend einen möglichst unauffälligen Fuß in der Tür dieses Gewerbes. Viel länger aufschieben konnte er das sowieso nicht mehr, und das hier war die ideale Gelegenheit – wenn man einmal davon absah, dass Javert sich völlig aufgekratzt und übermüdet fühlte. Aber wenn er derartige Befindlichkeiten zur Leitlinie seines Handelns gemacht hätte, dann hätte er sein Bett wohl schon sehr lange nicht mehr verlassen. Ruhe gab es nicht, bis zum Schluss.
    „Ach komm“, sagte Ruga. „Da langweilst du dich doch zu Tode.“ Er stutzte kurz. „Ach so, jetzt verstehe ich! Weil wir ins Bordell gehen! Nein, da kann ich dich auch direkt beruhigen: Die Rote Laterne hatte in der Vergangenheit zu Recht nicht den besten Ruf, und da hätten wir dich hier wirklich dringend gebraucht. Aber die Stadt hat vor einiger Zeit schon reagiert und den Betrieb konzessioniert, das heißt, die Leitung ist von der Stadt handverlesen. Da passieren keine krummen Dinger mehr.“
    „Das klingt gut. Ich würde aber trotzdem gerne mitkommen. Es wäre ja schon ein bisschen seltsam, wenn ich nicht einen einzigen Blick in das einzige Bordell auf Khorinis geworfen hätte, oder? Zumindest das einzige Bordell, das der Allgemeinheit bekannt ist.“
    Ruga zuckte erneut mit den Schultern. „Gut, wenn du magst. Dann zeigen wir dir mal das Khoriner Nachtleben, was?“
    Offenbar wartete Ruga noch darauf, dass Javert seine Milizuniform vom krummen Kleiderständer in seiner Stube nahm, aber als Javert nichts dergleichen tat, wurde das vom Milizionär ohne weiteren Kommentar akzeptiert. Zu dritt verließen sie die Kaserne und marschierten über den verlassenen Galgenplatz direkt ins Hafenviertel. Als sie über den großen Hauptweg kamen, begann ein am Wegesrand stehender Glatzkopf mit seinen fleischigen Händen hektisch in der Hemdtasche herumzunesteln. Ruga warf Javert daraufhin ein wissendes Grinsen zu, das Javert mit einem halbwissenden Nicken erwiderte. Der Geruch sprach ja Bände. Die drei ließen den Glatzkopf stehen und gingen weiter in Richtung Hafenkai. Nachdem sie einen kärglichen Marktstand mit ein paar in der Hitze vor sich hin backenden Käselaiben und Äpfeln passiert hatten, der von einer älteren Dame mit verschmutzter Haube betreut wurde, bogen sie nach links ein und kamen alsbald vor einem zweigeschossigen, schiefen Haus zum Stehen. Ein roter Lampion neben einem verwitterten, nicht mehr lesbaren Schild an der Hausfassade bestätigte Javert, was er ohnehin bereits geahnt hatte. Ein drahtiger Kerl vor dem Hauseingang, der bis gerade noch im Türrahmen gelehnt hatte, nahm Haltung an, als er die zwei Milizionäre und Javert erblickte.
    „Nabend Rengaru“, sprach Ruga den Türsteher an. „Einmal zur Kontrolle.“ Der Türsteher nickte bloß und machte dann einen Schritt zur Seite, um die drei Besucher durchzulassen.
    „Der hat auf den Job wirklich keine Lust, aber besser den ganzen Tag lang stehen als noch länger sitzen, haben wir ihm damals gesagt“, raunte Boltan Javert beim Hineingehen zu.
    Als Javert den gedrungenen Bau betrat, dachte er im ersten Moment, er stünde in einem kleinen Lagerhaus, das lediglich behelfsmäßig zu einem Bordell umfunktioniert worden war – und vielleicht war das einst auch genau so gemacht worden.
    Der Hauptraum war klein und eng und zur linken Seite durch eine lange Theke begrenzt, an der jedoch, soweit ersichtlich, überhaupt keine Getränke ausgeschenkt wurden. Hinter der Theke stand eine stabile, mittelalte Frau mit zusammengebundenen, blassblonden Haaren, aus denen sich keck eine lockige Strähne gelöst hatte und ihr rundes Gesicht halb einrahmte. Die Frau steckte in einer weißgrauen Bluse, die einen unerhörten Ausschnitt ihres Oberkörpers preisgab. Nicht weit von der Theke auf der linken Raumseite war ein weiterer, vermutlich sehr kleiner Raum mit einer geschlossenen Holztür abgetrennt; Javert vermutete dahinter eine Art Geschäftszimmer.
    Das Parkett in der Mitte des Raumes war von drei kreisrunden, ausgefransten, vormals roten Teppichen notdürftig belegt, auf zwei der Teppiche standen Wasserpfeifen, wie sie in Varant gerne geraucht wurden und in den letzten Jahren auch in Myrtana Verbreitung gefunden hatten. Sie waren gerade unbenutzt; der einzige Kunde im Hauptraum saß auf einem abgewetzten Sessel, der im dämmerigen, orangenen Licht im Raum eher rosa aussah und direkt neben, fast schon hinter dem Eingang rechts in einer Ecke drapiert war. Der unscheinbare Mann mit den ergrauten Schläfen und dem ausgedünnten Deckhaar wirkte abwesend und schläfrig, und Javert konnte sich schon denken, dass das nicht daran lag, dass der Kerl den ganzen Tag über schwer gearbeitet hätte. Aber für diese Angelegenheiten war Javert nicht hier.
    Weiter geradeaus auf der rechten Raumseite führte keine Treppe, sondern eine Rampe nach oben, die dem Raum sodann auch den gewissen Charakter eines umfunktionierten Lagerhauses verlieh. Im Obergeschoss vermutete Javert die Zimmer für die Damen des Bordells. Auf dem knarzigen Holzboden hörte man jeden Schritt, sowohl von oben, als auch von hier unten. Abgesehen davon war es im ganzen Hause sehr ruhig, geradezu unangenehm still. Die Atmosphäre hier war weniger die eines Freudenhauses als die einer versprengten Trauergemeinde, bei der die letzten verbliebenen Gäste den richtigen Zeitpunkt zum Verlassen der Feier verpasst hatten. Javert fühlte sich unwohl und fehl am Platz und fragte sich in diesem Moment, warum er sich überhaupt und ohne Not vorschnell dazu entschieden hatte, sich das hier anzutun.
    Ruga und Boltan waren an die Theke herangetreten und begannen ein Gespräch mit der Dame des Hauses.
    „Guten Morgen, die Herren“, sagte die Dame in einem vertrauten Tonfall zu den beiden. „Arbeit oder Vergnügen?“ Sie lächelte verschmitzt.
    „Guten Abend, Mathiba“, sagte Ruga. „Reine Routine. Mit Vergnügen hat das nichts zu tun. Ist irgendetwas Besonderes vorgefallen in letzter Zeit?“
    „Letzten Abend haben sich zwei Besoffene geprügelt und einer von denen hat dann unter den Teppich gekotzt, nachdem ich sie getrennt hatte und gerade rausschmeißen wollte. Aber ich weiß nicht, ob das als etwas Besonderes zählt.“
    „Na dann …“, kommentierte Ruga unbeeindruckt.
    „Und wer ist das?“, fragte die Dame und lehnte sich ein wenig auf die Theke, um einen besseren Blick auf Javert erhaschen zu können. „Den jungen Mann habe ich ja noch gar nicht gesehen. Ein neuer Kollege?“
    Bevor Javert selbst etwas zu seiner Person sagen konnte, antwortete Ruga bereits ausführlich für ihn.
    „Ja, wir haben hohen Besuch! Das ist Javert, seines Zeichens königlicher Sonderermittler, der hier auf die Insel entsandt wurde, um Fälle von Menschenhandel aufzuklären.“
    Die Dame zog die Augenbrauen hoch. „Also da bist du hier aber an der falschen Adresse“, sagte sie zu Javert gewandt und wirkte dabei ehrlich gekränkt. „So etwas gibt es hier nicht, das ist ein sauberes Geschäft hier.
    Meine Mädchen machen das alles freiwillig, und volljährig sind sie auch alle.“
    „Ja, das habe ich mir natürlich schon gedacht“, sagte Javert. Er trat einen Schritt an die Theke heran, in der Hoffnung, dass die Hausdame ihre Lautstärke beim Reden etwas drosseln würde. Außerdem hatte er gerade das Bedürfnis, sich an der Theke festzuhalten. „Wie viele Frauen arbeiten denn hier? Auf den Zimmern, meine ich.“
    „Was wird das hier? Der Zensus?“, lachte Mathiba. Sie wandte ihren Blick zur Decke und machte das Gesicht eines in Gedanken zählenden Menschen. „Fünf“, sagte sie dann. „Aber die sind nicht immer alle gleichzeitig da. Heute sind es nur Nadja und Vanja, Sonja hat sich krank gemeldet, und Aila und Chani haben heute frei, dafür haben sie die kommenden Tage mehr zu tun. Ihr fangt jetzt aber nicht an, mir hier alles auf den Kopf zu stellen, oder?“
    Javert überlegte, ob er einmal einen Blick in die Zimmer werfen sollte, entschied sich aber schließlich dagegen, weil er einerseits nicht glaubte, dadurch Spuren auf irgendetwas zu finden, andererseits aber auch keine weiteren kecken Nachfragen der Betreiberin provozieren wollte. Außerdem wollte er nicht direkt wie ein Schnüffler wirken, weil er sonst die Tür, die ihm gerade geöffnet worden war, direkt mit dem Hintern wieder zuwerfen würde. Hier musste er behutsam vorgehen.
    „Also, ich habe das jedenfalls nicht vor“, sagte Javert. „Ich war nur neugierig. Abgesehen davon: Regelmäßige Kontrollen schützen ja vor allem die, die sich rechtmäßig verhalten.“
    „Wenn das so ist …“, sagte Mathiba nur. „Wolltet ihr sonst noch etwas?“
    „Alles Mögliche, aber nichts, was man hier bekommt“, sagte Ruga milde lächelnd. „Wir sind für heute fertig. Oder wolltest du noch was, Javert? Keller haben sie hier nicht, wo man geschmuggelte Menschen verstecken könne.“
    Javert überlegte noch, ob er darauf eine ernste oder eine witzige Antwort geben wollte oder eine Mischung aus beidem, als ihn Schritte von der Rampe zu seiner Rechten ablenkten. Es war mindestens ein paar Füße, und einen Moment darauf sah er auch die Stiefel, dann die Beine in einer schlichten Hose … und irgendetwas an diesem Gang kam ihm bekannt vor. Nur ein, zwei Augenblicke später wusste er, warum. Es war Peck, und während Javerts Verstand sofort nach Entlastungsmomenten für den Milizionärskollegen suchte, wie zum Beispiel die Notwendigkeit des Bordellbesuchs für Ermittlungen, wurden diese Rettungsbesuche auch schon dadurch durchkreuzt, dass eine aufgebrezelte Dame in einem eng taillierten Kleid direkt hinter Peck her ins Erdgeschoss schritt.
    „Oh weh“, hauchte Ruga, denn Javerts Blick bei dieser Entdeckung hatte wohl derart viele Bände gesprochen, dass die Theke hier im Erdgeschoss unter ihrem Gewicht zusammengebrochen wäre, hätte man das Gesamtwerk auf ihr aufgereiht.
    „Peck!“, rief Javert aus, ein kaum unterdrückbares Zittern in seiner Stimme. Sein Herz pochte so hart in seiner Brust, als sähe er in das Antlitz eines Säbelzahntigers statt in das schuldbewusste Gesicht des kahlen Milizionärs. Während sich seine weibliche Begleitung, ihre Haut ebenso dunkelbraun wie die Pecks, mit ausdrucksloser Miene an ihnen vorbeistahl, blieb Peck auf halbem Wege auf der Rampe stehen und sah derart bedröppelt aus, dass Javert es fast leid tat.
    „Was bei Beliar machst du hier?“
    Peck seufzte auf und rieb sich die Stirn. „Ich schätze, Ermittlungen zieht als Ausrede nicht, was?“
    „Nein. Vor allem, weil ich dich im Hafen zurück bei Ignaz’ Hütte erwartet hätte, statt hier.“
    „Ignaz’ Hütte?“, warf Ruga ein. „Was habt ihr denn da gemacht?“
    „Das ist doch jetzt egal!“, hieb Javert dazwischen. Er spürte, wie ihm schwindelig wurde, der Boden unter ihm schien auf einmal sehr uneben zu sein, beinahe unter ihm wegzukippen. „Ein stadtbekannter Milizionär im Hafenbordell, und das auch noch während der Dienstzeit! Wie soll das denn aussehen? Was soll ich in die Berichte nach Vengard schreiben? Auf Khorinis ist alles in bester Ordnung, die Miliz hat selbst in den hinterletzten Winkeln nach verschwundenen Menschen gesucht? Überprüft stets mit großem Eifer eigenhändig, ob sich unter den Prostituierten verschleppte Frauen befinden?“
    „Hier wurde niemand verschleppt!“, rief Mathiba empört.
    Javert atmete einmal tief durch. „Peck“, sagte er. „Ich bin ja nicht dein eigentlicher Vorgesetzter, und auch als solcher würde ich dir hier keinen unnötigen Aufriss machen wollen. Aber solange wir gemeinsam in meinem Gebiet ermitteln, und das betrifft auch Bordelle, egal wie sauber das hier abläuft, ist so etwas nicht drin. Völlig unabhängig davon, wie das hier zu bewerten ist. Aber solange die Ermittlungen laufen, wird es solche privaten Besuche hier nicht mehr geben. Und wenn das noch einmal vorkommt, dann werde ich ganz offiziell Beschwerde bei Wulfgar oder Pablo über dich einlegen. Und das meine ich jetzt so ernst, wie ich es sage.“
    Der schläfrige Mann neben der Tür im Sessel lachte kurz brummend. Alle Anwesenden ignorierten ihn angestrengt.
    „Ja, ist gut“, sagte Peck, ging langsam die letzten Schritte der Rampe herunter und blieb vor Javert stehen, dem er tief in die Augen sah. „Ich könnte jetzt noch irgendwie versuchen, etwas an der Sache zu erklären, aber wahrscheinlich sage ich besser gar nichts mehr, was?“
    „Wahrscheinlich. Aber damit ist die Sache für mich auch erledigt. Wir sprechen dann am besten morgen?“
    „Ja. Natürlich.“
    Ohne weiteren Gruß stapfte Peck an der versammelten Gesellschaft vorbei aus dem Bordell heraus. Javert fühlte sich schrecklich dabei, seinen Kollegen so abgekanzelt zu haben. Aber ein wandelndes Sicherheitsrisiko konnte er sich bei seinen Ermittlungen nicht leisten. Sein Blick ging zu Ruga.
    „Ja … schau mich nicht so an, ich weiß doch auch nicht …“, sagte der Milizionär. „Finde ich ja auch nicht …“ Ruga rang sichtlich nach Worten. „Ist jetzt ja auch nichts Neues, dass der Kerl ’nen heißen Stift hat. Aber ich glaube, die Botschaft ist jetzt bei ihm angekommen. Musst nur hoffen, dass er nicht Beschwerde über dich bei Pablo einlegt.“
    Javert zuckte mit den Schultern. „Soll er machen.“ Innerlich war sein Herz am Pochen. Das hier war genau die Art von Situation, von der er sich so weit weg wünschte wie nur irgend möglich. Ein Luftzug kreiste um seine Ohren und verriet ihm, dass hinter ihm noch jemand auf der Rampe vom Obergeschoss erschienen war. Aus dem Augenwinkel konnte er zwei Unterschenkel sehen, pechschwarz, weder nackt noch angezogen. Seine Kehle schnürte sich bei dem Anblick zu. Javert versuchte, seinen rasselnden Atem in den Griff zu bekommen. Nicht hier, nicht jetzt, sprach er in Gedanken zu sich selbst. Bitte nicht.
    Javert schrak auf, als draußen auf den Pflastersteinen hektische Schritte in ihre Richtung knallten. Kurz darauf kamen zwei untersetzte Männer schwer atmend in die Rote Laterne gelaufen.
    „Innos sei Dank, ihr seid hier“, keuchte einer der beiden. „Bei Moe wollte einer die Zeche prellen und ist dann ausgetickt, hat ein Messer gezogen und so! Moe hat ihn zu Boden bringen können, aber ich glaube, wenn ihr die beiden nicht voneinander trennt, dann gibt’s heute noch Tote. Moe ist ganz schön angepisst, und … na ja, ihr wisst ja, wie er sein kann!“
    „Kommen!“, sagte Boltan und rannte bereits raus, hinter den beiden Männern her. Ruga nickte Javert zu und begab sich ebenfalls nach draußen. Javert wagte noch einen Blick auf die Rampe. Dort stand niemand. Er blickte Mathiba hinter dem Tresen zum Abschied kurz an und folgte dann den Milizionären nach draußen zur wenige Meter entfernten Kneipe von Moe.
    Als Javert den stickigen Bau an der Ecke betrat, war die Situation schon so gut wie aufgelöst. Boltan hatte den Zechpreller, einen grauhaarigen, verwirrt brabbelnden Mann mit Fletschauge, in einen schraubstockartigen Griff genommen, während Ruga auf Moe einredete. Javert konnte die einzelnen Worte in der überfüllten Kneipe, deren Stimmung durch die gerade so verhinderte Messerstecherei offenbar kaum einen Deut heruntergekühlt worden war, nicht verstehen. Aber Rugas zackige Gesten verrieten genug über den Inhalt seiner Tirade. Als Ruga seinen kleinen Vortrag beendet hatte, nickte er Boltan zu. Der schleppte den Grauhaarigen routiniert an Javert vorbei nach draußen, wo er ihm schlicht einen kleinen Schubs in eine Richtung weg von der Kneipe gab, in die der Alte dann auch folgsam wegtrottete. Das Jagdmesser, das der Mann vorher noch in den Händen gehalten hatte, hatte Boltan ihm abgenommen und befestigte es nun an seinem eigenen Gürtel. Dann trat auch Ruga aus der Kneipe heraus und bedachte Javert mit einem lässigen Schulterzucken.
    „Wie gesagt“, raunte er. „Reine Routine. Das ist aber schon ein kleiner Erfolg, dass uns wenigstens zwei aus der Spaß- und Trinkgesellschaft hier offenbar für vertrauenswürdig genug gehalten haben, um uns zur Hilfe zu holen. Vor ein paar Jahren hätten die das noch selber geregelt, und das dann aber auch vermutlich endgültig.“
    „Ist aber auch fast ein bisschen traurig, dass die beiden Kerle auf der Suche nach uns direkt in den Puff gerannt gekommen sind“, meinte Boltan.
    „Ja, schon“, sagte Ruga nur. Viel mehr wurde dann zwischen den dreien nicht mehr gesprochen, und sie verabschiedeten sich gegenseitig in den Feierabend. Javert warf einen letzten Blick auf den schiefen Bau der Roten Laterne, bevor er ebenfalls abzog und den Heimweg antrat.

    Als Javert die Tür zu seiner Behausung hinter der Kaserne aufsperrte, war er erschrocken, wenn auch nicht überrascht, einen pechschwarzen Schemen mitten im Raum stehen zu sehen, der ihn mit seinem augenlosen Gesicht stumm ansah. So, wie der Schatten auf ihn gewartet hatte, hatte Javert im Wesentlichen schon den ganzen Tag darauf gewartet, dass er ihn in seiner eigenen Wohnung in Empfang nehmen würde. Sein Herz krampfte zusammen wie in einer kalten Faust, seine Luftröhre wurde so weit zusammengedrückt, dass nur noch ein schmaler Atemstrom hindurchrasseln konnte. Eine Böe deutlichen Schwindels brachte ihn in Schlagseite, und als er sich wieder gefangen hatte, stand er wie auf einer hauchdünnen, unebenen Fettschicht, die jederzeit reißen konnte.
    „Willkommen daheim“, sagte die Gestalt, ohne ihren nicht vorhandenen Mund zu bemühen. Die Worte wurden wie ein temperaturloser, unauffälliger Lufthauch durch Javert getragen, ohne jemals seine Ohren zu passieren. „Ich glaube, man sagt: Zuhause ist, wo die Angst wohnt. Da kann man noch so weit verreisen.“
    Javert war wie angewurzelt im Hauseingang stehengeblieben, machte nun aber die Tür hinter sich zu. Seine Hände und Finger waren dabei ganz ruhig, innerlich aber bebte er.
    „Spar dir deine Sprüche und lass mich in Ruhe.“
    „Ruhe gibt es nicht, bis zum Schluss“, philosophierte der Schemen weiter. Er saß nun breitbeinig auf Javerts Bett, sodass Javert, selbst wenn er gewollt hätte, kein Platz zum Liegen mehr geblieben wäre. „Außerdem hast du dir meinen Besuch selber eingebrockt. Mir scheint, du brauchst mal wieder jemanden, der dich auf die richtige Spur bringt. Falls es dafür noch nicht zu spät ist.“
    „Ich komme alleine klar.“
    „Eben nicht“, sagte die Gestalt und wandte ihren augenlosen Kopf nun direkt in Javerts Richtung. „Eben nicht. Oder was war das vorhin im Bordell? Du hast dich mit offensichtlichen Lügen der Inhaberin abspeisen lassen und dann bei deinem Milizkumpel nicht richtig durchgegriffen. Alles nur, damit es nicht unbequem wird, habe ich Recht? Währenddessen wird wahrscheinlich mindestens eine Frau gegen ihren Willen im Bordell festgehalten, und die restlichen Frauen befinden sich unter Garantie in einer wirtschaftlichen Zwangslage. Und du lässt das einfach so laufen.“
    Das Gesagte versetzte Javert ein Stich in sein Herz, als hätte er seine Brust mit seinem eigenen Degen durchbohrt. „Das stimmt nicht“, knurrte er. „Das sind alles nur Mutmaßungen. Es gab dafür keine Anhaltspunkte. Ich kann denen nicht einfach so den ganzen Laden auf den Kopf stellen.“
    Der Schemen lachte glucksend auf, blieb auf dem Bett sitzen und legte entspannt seine Beine über Kreuz. „Ja, das ist das, was du dir jetzt im Nachhinein an Gründen zurechtlegst für das, was du längst entschieden hast. Dabei wissen wir doch beide, dass du schon in der Roten Laterne sehr wohl darüber nachgedacht hast, dass es dort vermutlich nicht mit rechten Dingen zugeht. Dass dort Unrecht geschieht. Leid. Dass du einschreiten müsstest. Und dann hast du es nicht getan. Und irgendwann später, vielleicht sogar erst viele, viele Jahre später, ereilt dich die Kunde von all der Gewalt, die die ganze Zeit über in diesem Hause verübt wurde. Schlimme, schreckliche Gewalt. Handel und Missbrauch von Menschen. Und du wirst dich erinnern, dass du es schon damals eigentlich gewusst hast, du dieses Wissen aber verdrängt und den Impuls zum Handeln niedergekämpft hast, statt zu helfen. Dass du das alles nicht verhindert hast. Je länger die Frucht der Erkenntnis am Baume reift, desto bitterer schmeckt sie am Ende.“ Der Schemen machte eine Pause und atmete einmal tief ein und wieder aus. Es war ein kalter Hauch. Sein schwarzer, wabernder Körper schien im Raum zu zerfließen und raubte Javert das letzte Licht vor den Augen. Javert blickte aus dem Fenster, und obwohl es draußen noch nicht ganz dunkel war, sah er nichts mehr.
    „Javert, Javert“, sagte der Schemen nun leise. Er wählte die Worte so, als wollte er Javert bemitleiden, aber seine Verachtung überkam Javert wie eine riesige Welle, die ihn tief hinunter zu reißen drohte. „So wird das aber nichts mit dem Schuld abtragen. Hattest du dir nicht eigentlich etwas anderes vorgenommen? Dir sogar etwas geschworen, um alles wieder gut zu machen? Hatten wir uns darauf nicht sogar irgendwie geeinigt, dass du nie wieder einen Fehler in der Richtung machst? Das ab jetzt alles richtig läuft und es keine Entschuldigung mehr dafür gibt, wenn du einfach so fahrlässig vom Weg abkommst? Und dann so eine Vorstellung. Als sei jetzt alles hinfällig. Du bist wirklich unverbesserlich. Was läuft falsch mit dir, Javert?“
    Javert wandte sich vom Fenster ab und blickte jetzt wieder zum Bett. Nur noch eine Stimme hing in der Luft, wie Rosenduft an einem schwülen Sommerabend.
    „Das wirst du jetzt wohl ausbaden müssen. Ab jetzt musst du wirklich zusehen, dass nichts mehr schief läuft. Du kannst nicht noch mehr Schuld auf deine Schultern laden, Javert. Sonst zerbrichst du. Aber wenn etwas sein sollte … dann denk dran: Ich bin da.“
    Javert stürmte wie vom Wahn getrieben zu seinem Bett und hieb einmal kräftig auf die Matratze, aber dort saß niemand mehr. Sein Herz hämmerte so hart seiner der Brust, dass er befürchten musste, sich mehrere Muskeln zu zerren. Gleichzeitig fühlte er sich wie untot, als seine Beine ihn zum engen Kämmerchen im Haus trugen, in dem sich der Abort befand.
    Während er saß, wälzten die Gedanken wie Lawinen in seinem Kopf hin und her. Massen an Worten, Ideen, Vorwürfen und Hoffnungen, ein beständiges Für und Wider, das ihn zu begraben drohte. Immer wieder kehrte ein Gedanke aus diesem Brausen an die Oberfläche, nämlich, dass er zurück in die Rote Laterne musste. Jetzt, sofort, bevor es zu spät war. Mit jeder Sekunde, die er abwartete, verstrich eine weitere früheste Gelegenheit, um jemanden zu retten. Und mit jedem weiteren Verstreichen fühlte sich seine Schuld größer an.
    Javert atmete tief ein und aus, versuchte sich zu sammeln, während er sich säuberte. Inmitten der dunklen Wolken, die in seinem Kopf aufquollen und diesen zum Platzen bringen drohten, zuckte dann und wann ein klarer Blitz auf. Wenn er jetzt zur Roten Laterne stiefelte, würde er gar nichts erreichen. Er hatte keinen Anhaltspunkt für irgendetwas, und selbst wenn dort etwas lief, war die Inhaberin nunmehr gewarnt. Heute war nicht der richtige Tag. Und er brauchte Belastbares. Beweise. Morgen würde er erst einmal mit Peck sprechen und dann den anderen Ermittlungsansätzen nachgehen. Und wenn das nächste Mal etwas sein sollte, irgendein Anhaltspunkt, irgendetwas Verdächtiges, irgendein Anpack – dann würde Javert zugreifen. Das versprach er sich.
    Javert verschaffte dieser Pakt mit sich selbst einen Moment der Ruhe. Als er den Abort verließ, war aber bereits alles wieder in sich zusammengebrochen. Vielleicht flüchtete er sich doch nur von Ausrede zu Ausrede. Die Angst vor diesem Gedanken griff an seine Brust und drückte so fest zu, dass es sich beinahe so anfühlte, als würden seine Rippen jeden Augenblick bersten. Obwohl sein Atem spürbar langsam ging, wurde ihm schwindelig wie nach schlimmster körperlicher Anstrengung. Als er nach dem Wasserkrug auf dem kleinen Beistelltischchen griff und einen kleinen Schluck nahm, schien die Flüssigkeit kaum durch seine Kehle zu passen. Zentnerschwerer Druck lastete auf seinem Oberkörper, und als er sich hilflos auf sein Bett legte, klopfte ihm das Herz bis zum Hals. Wenn er ganz still war, konnte er es im Bett rascheln hören, so spürbar zuckte und bebte sein ganzer Körper unter jedem Pulsschlag. Er legte sich auf die Seite. Wenn er die Augen schloss, wurde alles nur noch schlimmer, und immer, wenn er dem Einschlafen sehr nahe kam, fühlte es sich an, als würde er ertrinken.
    Javert wusste nicht genau, wie lange das alles so ging, aber er rechnete bereits in Stunden und nicht mehr in Minuten. Irgendwann hatte er sich in einen Halbschlaf gekämpft, in dem er furchtbar anfing zu schwitzen. Wasser sammelte sich auf seiner Brust und zwischen seinen zusammengepressten Schenkeln. Obwohl ihm heiß war, zog er sich die Bettdecke über und wurde unter ihr immer kleiner. Lediglich sein Mund und seine Augen schauten noch hervor. Beide presste er kräftig zu. Das Schlafen war nun längst zum Kraftakt geworden. Aber irgendwann, nach einiger Zeit, drifteten seine Gedanken immerhin so weit ab, dass er das Hier und Jetzt fast ganz vergaß. Er träumte davon, nicht schlafen zu können; außerdem von wochenlangen Reisen und jahrelangen Lebensgeschichten, von mehreren Menschenleben, die es dauerte, bis er zu den Sternen hinauf fuhr. Er träumte Alltägliches und Außergewöhnliches; von Sekunde zu Sekunde und mit jedem gedämpften Lidschlag blinzelte er eine ganze Epoche weg. Und zwischen all den Bildern tauchte immer wieder eine Szene auf, die erst gegenständlich war, aber von Mal zu Mal abstrakter wurde, bis sie mehr ein Konzept als ein Traum war. Es war ein Rechenschieber, wie er im varantinischen Raum gebräuchlich war, ein auf hölzernen Standfüßen errichteter Rahmen mit mehreren Stäben, auf denen bunte Perlen in verschiedenen Farben aufgezogen waren. Sie waren grün, blau, rot, gelb, weiß und schwarz. Sie alle standen für etwas, erst für Zahlen, dann für Werte, dann für Waffen, dann für Tage, Wochen und Monate, schließlich für Getränke, dann für Menschen. Javert schob sie unablässig von links nach rechts, hin und her auf einer nicht enden wollenden Achse, rastlos, unruhig. Eine grüne Perle war Agon. Sie glitt über den Stab wie ein Finger auf geschmolzener Butter, und Javert fand trotz langen Suchens keine Position, auf der sie ruhig stehen blieb. Eine rote Perle war Peck, sie war weit nach links verschoben und ließ sich nicht näher als einen Fingerbreit bis zur Mitte schieben. Eine gelbe Perle war Pablo, aber immer, wenn Javert sie zu fassen bekommen wollte, verschwand sie aus seinem Blickfeld, und er musste sehr lange suchen, bis er sie wiederfand und sich das Spiel aufs Neue wiederholte. Ignaz war eine Perle in weiß, die auf dem obersten Stab thronte und die Javert sich nicht wagte anzurühren. Ganz unten war eine schwarze Perle aufgezogen, die zu Wulfgar gehörte, aber der Stab lag so tief, dass Javert ihn kaum erreichen konnte. Es gab noch weitere Perlen und Personen, aber sie alle gerieten immer wieder durcheinander und mussten von Javert fortlaufend neu geordnet werden, der dabei aber kein Ende fand. Es war, als sei er auf ewig dazu verurteilt, ihre wahren Positionen herauszufinden, und wehe ihm, er lag auch nur einen Millimeter daneben. Jeder Irrtum, das wusste er, konnte sich fatal auswirken. Am Ende stand das Gerüst der ganzen Welt auf dem Spiel. Es würde in sich zusammenbrechen, wenn die Kugeln falsch standen.
    Javert schnappte nach Luft und wachte mit einem heftigen Zucken auf. Sein Hemd war völlig durchnässt und klebte an seiner Brust; das Bett fühlte sich kaum anders an. Seine Haare waren ebenfalls von Schweiß getränkt. Alles war so feucht, dass Javert fast fror, und das Gefühl war ihm in diesem Moment so unglaublich angenehm, dass er sich richtiggehend geborgen fühlte. Er schloss die Augen. Sein Körper war nun schwer und erschöpft und zog seinen Geist mit sich. Als Javert sich das nächste Mal umdrehte, war er bereits in einen tiefen Schlaf gefallen.
    Geändert von John Irenicus (22.01.2024 um 14:58 Uhr)

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